Bensheim. Er ist der „Pianist aus den Trümmern“. 2014 ging ein Foto aus dem belagerten Yarmouk, dem Palästinenser-Viertel von Damaskus, um die Welt. Ein junger Mann an einem Klavier in einer zerbombten Stadt. Die Aufnahme des später ums Leben gekommenen Fotografen Niraz Saied wurde zu einer Ikone. Ein Zeichen gegen den Wahnsinn des Krieges.
Der Musiker heißt Aeham Ahmad. Geboren 1988 in einem Vorort von Damaskus. In Deutschland hat er nach seiner Flucht 2015 mit seiner Frau Tahani und den beiden Kindern sowie mit seiner Mutter und seinem blinden Vater in Wiesbaden eine neue Heimat gefunden. Ein Granatsplitter in seiner linken Hand erschwert ihm das Klavierspiel. Zu hören ist das nicht.
Während des Bürgerkriegs in Syrien hat Ahmad begonnen, auf Straßen und öffentlichen Plätzen aufzutreten und mit den Kindern aus dem Quartier Musik zu machen. Videos von seinen Auftritten wurden in sozialen Netzwerken geteilt. 2015 erhielt er den Internationalen Beethovenpreis für Menschenrechte, Frieden, Freiheit, Armutsbekämpfung und Inklusion der Beethoven-Akademie Bonn.
2017 erschien seine Autobiografie „Und die Vögel werden singen“. Am Dienstag gastierte er in der Kirche Sankt Laurentius im Rahmen des Bensheimer Lesefestivals. Gemeinsam mit dem Journalisten und Autor Andreas Lukas aus Wiesbaden präsentierte er das gemeinsame Buch „Taxi Damaskus“. Rund 80 Menschen hörten zu. Sie erlebten eine leise Reise nach Syrien zu den Menschen im Alltag des Krieges, in dem seit 2011 rund eine halbe Million Menschen ihr Leben verloren haben. Rund 13 Millionen Syrer mussten ihre Heimat verlassen.
Knapp die Hälfte der Geflüchteten befindet sich innerhalb Syriens auf der Flucht. Die andere Hälfte ist vor der Gewalt ins Ausland geflohen, die meisten in die Nachbarländer. Zerstörung, Verfolgung, Unterdrückung und desaströse wirtschaftliche Verhältnisse prägen die Region. Es mangelt an grundlegender Versorgung. „Taxi Damaskus“ berichtet von ihnen.
Es sind fein gezeichnete Miniaturen, intensive Begegnungen über Sehnsüchte und Hoffnungen, geprägt vom jahrelangen Leid der Bevölkerung. Taxifahrer Ahmed erzählt sie dem Leser. In einer einfachen Sprache ohne Schnörkel und Filter, direkt und wahrhaftig. „Wir wollten den Menschen eine Stimme geben“, sagt der promovierte Politikwissenschaftler Andreas Lukas in Bensheim. Die Geschichten sind von lyrischen Passagen untermalt und – bei der Lesung – teilweise mit dem Klang der Klaviermusik vereint.
Wie der Musiker, Komponist und Autor bei seinen Auftritten den Zuhörern als Mensch unter Menschen begegnet, so ist auch der Leser ganz nah an den Leuten vor Ort. Das Buch widmet sich ganz den Geschichten der Fahrgäste, manchmal sinniert der Fahrer für sich über die Situation in Syrien und sein eigenes Leben in einem schwierigen Geschäft. Dann wieder ärgert er sich über seine Kunden, die seine Dienstleistung arrogant kommentieren. Schließlich packt ihn die Sorge, ob er mit seiner Arbeit seine Familie auch morgen noch wird ernähren können.
Die Musik spiegelt Zerbrechlichkeit, Überschwang, Freiheitsdrang sowie tiefe Trauer und energetische Freude, der Klang schafft eine Verbindung zwischen verschiedenen Gesellschaften und Kulturen und wird zu einem Plädoyer für eine offene und friedliche Begegnung der Menschen.
Eine eigene Sprache gefunden
In Wort und Musik wird das Hier und Jetzt in der syrischen Hauptstadt reflektiert – in einem bescheidenen und nüchternen Ton, der die Zuhörer angesichts des Kriegshorrors umso mehr berührt. Trotz der physischen Einschränkungen hat Aeham Ahmad eine eigene Sprache gefunden, in der er seine Gefühle und Gedanken umsetzt. Eine Melange aus Jazz und Klassik, arabischen Klangfarben, voller musikalischer Zitate und verspielter Rhythmik, getragen von Vokalelementen, die über jede sprachliche Barriere hinwegführen und ihn im Idealfall mi seinem Publikum zusammenführen.
Die Zuhörer erlebten eine hautnahe Taxifahrt in die Psyche der Menschen, eine literarische Reise ins Herz der Finsternis. Aber nicht ohne die Hoffnung, dass die Region eines Tages wieder zur Ruhe kommt und – wie er in seinem ersten Buch betont – die Vögel wieder singen werden.
Vanessa Schwöbel vom Eigenbetrieb Stadtkultur begrüßte die Gäste zur sechsten Lesung im Rahmen des Bensheimer Lesefestivals, das am 10. Oktober fortgesetzt wird.
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