Bensheim. Aktuelle gesellschaftspolitische Fragen stehen im Zentrum des vor drei Jahren auf Initiative von Stefan Trier (Fachbereichsleiter Gesellschaftswissenschaften) gegründeten Scholl-Forums. Zum sechsten Mal fand die von der Politikwerkstatt der Geschwister-Scholl-Schule ausgerichtete Veranstaltung nun schon statt und nach Gästen wie der US-amerikanischen Generalkonsulin oder dem hessischen Kultusminister war am Freitag ein weiterer hoher Gast der Einladung nachgekommen.
Ein „Gast des Herzens“
Herzlicher Applaus begrüßte den Auftritt des von Personenschutz begleiteten Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland Josef Schuster. Sein Kommen empfinde man als unglaublich große Wertschätzung, sagte Schulleiter Thomas Stricker bei der Begrüßung, und wies auf die Verantwortung der Schule für Prävention hin. Man müsse den derzeit bedenklichen Tendenzen entgegentreten und dafür sorgen, dass Schülerinnen und Schüler sich für die Freiheit der eigenen Meinung einsetzten und für ein gutes Miteinander in der Zukunft sorgten.
Kunstfreiheit wurde bei der Documenta missbraucht
Über die Rolle der christlichen Kirchen befragt, sah Schuster diese heute auf einem guten Weg, erwähnte aber auch, dass es die Kirche war, die den europäischen Antisemitismus hervorgebracht habe. Der islamische Antisemitismus dagegen gründe politisch in der Entstehung des Staates Israel, wegen der viele Menschen die Region verlassen mussten und bis heute in Flüchtlingscamps der Nachbarländer lebten, ohne integriert zu werden.
Zur Unterscheidung von Antisemitismus und legitimer Israelkritik sagte Schuster, weder müsse man mit den politischen Entscheidungen der israelischen Regierung einverstanden sein noch solle man dazu schweigen. Die Grenze sei aber erreicht, wenn das Existenzrecht Israels bestritten und der Staat dämonisiert werde.
Mit der antisemitischen Hetze bei der Documenta sei die Kunstfreiheit missbraucht worden, und das Verhalten des Kassler Oberbürgermeisters habe aus Angst vor Schaden für die Stadt die Ausstellung in der ganzen Welt zu einer „Documenta der Schande“ gemacht. Die Schmähplastik an der Kirche in Wittenberg könne man als historisches Dokument entweder ins Museum bringen oder am Ort belassen und mit einer selbstkritischen Beschriftung versehen.
Schuster betonte in seinem Vortrag immer wieder die Unabdingbarkeit von Bildung und Fortbildung zur Verhinderung von Rassismus und Diffamierung. In die gleiche Richtung ging der Redebeitrag von Rechtsanwalt Jürgen Illing, der einen Scheck der privaten David Ben-Gurion Stiftung überbrachte, mit dem der seit 2019 bestehende Schüleraustausch der GSS mit einer israelischen Schule unterstützt wird – ein Beitrag, so Illing, „für die Zukunft, die die Schülerinnen und Schüler gestalten werden“. eba
Stefan Trier begrüßte Josef Schuster als „Gast des Herzens“ und bedankte sich bei Politiklehrer Patrick Borchert für die Organisation der Veranstaltung. Das Publikum auf den dicht besetzten Rängen des Forums setzte sich aus Schülerinnen und Schülern der Oberstufe und aus Gästen zusammen, darunter Vertreter des Kreises, der Stadt Bensheim und des Staatlichen Schulamts.
Mit einem Zitat aus dem letzten Flugblatt der Weißen Rose begann Schuster seinen einer ausführlichen Fragerunde vorangestellten Einführungsvortrag: „Im Namen der ganzen deutschen Jugend fordern wir von dem Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut des Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen hat.“ Wie stehe es heute mit dem Bewusstsein für die persönliche Freiheit, fragte Schuster und machte darauf aufmerksam, dass die Antwort vor Corona wohl anders ausgefallen wäre als heute. Die Pandemie habe deutlich gemacht, wie kostbar und wie wenig selbstverständlich dieses Gut sei, zugleich seien die meisten bereit gewesen, auf viel zu verzichten, um die Gesundheit aller zu schützen.
Doch müsse man vor den Gruppen warnen, die sich in dieser Zeit radikalisiert hätten. Gegen die Parolen der Rechtsextremen, die Jüdinnen und Juden als Sündenbock darstellten, müsse man sich mit breitem Wissen über die NS-Zeit wappnen – das sei wichtig für die Zukunft Deutschlands und der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland.
Etwa 150 000 Jüdinnen und Juden lebten derzeit in Deutschland (zum Vergleich: fünf Millionen Muslime), viele davon seien erst seit 1990 zugewandert, auch aus der Ukraine – meist lang, bevor dort Krieg war. Noch immer beherrschten aber die von den Nationalsozialisten verankerten Stereotype das Bild von jüdischen Menschen: Hakennase, abstehende Ohren, schwarzer Hut und Schläfenlocken. Doch gebe es in Deutschland fast keine ultraorthodoxen Juden und äußerlich sei nicht zu erkennen, ob jemand jüdisch sei.
In der Schule werde viel über die Shoah gesprochen und die Juden würden überwiegend als Opfer dargestellt. Die reiche, lange Tradition der jüdischen Kultur in Deutschland sei bislang kein Thema, solle jedoch nach Absprache mit den Kultusministern künftig größeren Raum einnehmen. Auch müsse die Lehrerschaft besser ausgebildet und unterstützt werden, mit dem Thema umzugehen, denn es herrsche noch viel inhaltliche Unsicherheit und Angst, etwas falsch zu machen.
Wichtig in diesem Zusammenhang sei die persönliche Begegnung, mit Zeitzeugen der Shoah, die immer weniger würden und bald nur noch per Filmdokumentation zu erleben seien, aber vor allem auch mit heutigen, gleichaltrigen Juden, wie es mit dem Projekt „Meet a Jew“ des Zentralrats der Juden in Deutschland ermöglicht werde. Es sei unsinnig, den jungen Leuten eine Schuld aufzubürden, mit der sie absolut nichts zu tun hätten. Es müsse vielmehr darum gehen, Empathie mit den Opfern hervorzurufen und ein Gefühl der Verantwortung für die Zukunft zu schaffen. „Warum verhält sich das deutsche Volk angesichts all dieser scheußlichsten, menschenunwürdigsten Verbrechen so apathisch?“, fragte die Weiße Rose in ihrem zweiten Flugblatt angesichts des Massenmords an den Juden in Polen. „Ich wünsche mir, dass Sie nie apathisch sind, wenn andere bedroht werden“, schloss Schuster seinen Einführungsvortrag.
In der Fragerunde konzentrierten sich die Moderatoren Elina Farahmandi, David Waßmer, Benedikt Jehlicka und Georg Straub aus den Stufen Q1 und Q3 auf drei Themenbereiche: „Jüdisches Leben in Deutschland“, „Kampf gegen den Antisemitismus“ und „Holocaust Education“, im Anschluss kamen viele Fragen aus dem Plenum.
Die Interessen kreisten dabei auch um die persönlichen Umstände Schusters. Warum er die Bürde seiner hohen Ehrenämter (Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Vizepräsident des World Jewish Congress und des European Jewish Congress) auf sich genommen habe und ob er sich in Deutschland wohl und sicher fühle. Er sei „in die Bütt“ gesprungen, als sein Vater sein Amt des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Würzburg nicht mehr habe ausüben können, auch wenn er zunächst gedacht habe, das neben seinem Beruf als Arzt nicht leisten zu können, erzählte Schuster mit deutlich fränkischem Zungenschlag. Im Übrigen klängen die Titel hochtrabender als es sei.
Seine Familie blicke auf eine 450-jährige Geschichte im bayrisch-hessischen Grenzgebiet zurück und er selbst sei ein „Nesthocker“, der zwar in Israel geboren, aber seit seinem zweiten Lebensjahr in Würzburg aufgewachsen sei und dort bis heute lebe. Also ja, er fühle sich wohl – und sicher, wie sich die meisten jüdischen Menschen in Deutschland fühlen könnten. Es gebe aber Ausnahmen, wie einige Bezirke in Berlin, wo man die Kippa besser unter einer Baseballkappe verberge. Nach dem Attentat von Halle seien die Sicherungsmaßnahmen der Behörden umgehend erhöht worden, auch die Sichtbarkeit der Polizei sorge für ein großes Sicherheitsgefühl – das gelte auch für Schulen. Die Polizeipräsenz dort stelle kein Problem für die Kinder dar, sondern sie vermittle positive Gefühle.
Gegen Rassismus und Diskriminierung helfe nur Bildung, das müsse altersgerecht schon ab dem Kindergarten anfangen. In Bezug auf die Shoah sei der verpflichtende Besuch in einem Konzentrationslager absolut wichtig, müsse aber pädagogisch gut vor- und nachbereitet werden und nicht ein Programmpunkt für den Wandertag wie jeder andere sein. Auch das ritualisierte Gedenken an Tagen wie dem 27. Januar und dem 9. November bezeichnete Schuster als sehr sinnvoll. Doch wie solle man gegen den Antisemitismus auf der Straße kämpfen, war eine Frage. Nicht, indem man den Helden spiele, sagte Schuster, sondern schon auf einer viel niedrigeren Ebene. Wenn im Freundeskreis antisemitische Bemerkungen gemacht würden, solle man das nicht unkommentiert lassen.
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