Jazzkeller

Im Duett mit der Maschine

Posaunist Henning Berg improvisierte mit seiner selbst programmierten Software

Von 
Thomas Tritsch
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Unter der Überschrift „Tango 2.0“ stand das experimentelle Gesprächskonzert mit dem Jazzposaunisten Henning Berg am Sonntag im PiPaPo-Theater. © Thomas Neu

Bensheim. Als künstliche Intelligenz im gängigen Sinn würde Henning Berg seine Software nicht bezeichnen. Der menschlichen Kreativität sei das Programm „hoffnungslos unterlegen“. Dennoch besitzt „Tango“ die Fähigkeit, innerhalb eines abgesteckten klanglichen Terrains frei und spontan auf musikalische Impulse zu reagieren und in der Folge auch eigene Akzente zu setzen.

Das jüngste Konzert im Rahmen der Reihe Bensheimer Jazzkeller war ein Experiment: Im PiPaPo-Kellertheater hat der Jazzmusiker seine Software nicht nur erläutert, sondern auch live mit ihr interagiert. Das Publikum erlebte ein Duett aus Mensch und Maschine, das durch einen vitalen musikalischen Dialog und instrumentale Klasse fasziniert hat. Man konnte unmittelbar miterleben, wie die IT ihrem menschlichen Partner zugehört und selbstständig musikalische Antworten ausformuliert hat.

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Für den Jazzkeller begrüßte Garvin Brod einen hochkarätigen Musiker: Berg ist Professor für Jazzposaune an der Hochschule für Musik Köln und war Hochschullehrer an der Folkwang Hochschule in Essen. Er verfasste und produzierte zudem Filmmusiken für den WDR und spielte lange in der Bigband des Senders.

Ergebnis eines langen Prozesses

„Tango“ ist das Ergebnis eines langen Prozesses: Neben seiner Tätigkeit als Jazz-Posaunist hat Berg bereits in den 80er Jahren viel mit Sequenzern und Synthesizern gearbeitet. Daher lag es nahe, elektronische Musik und Duo-Improvisation zu verbinden, betont er in Bensheim. Also suchte er nach einem interaktiven Musikprogramm, das sich ähnlich wie ein im Duo improvisierender Musiker dramaturgisch sinnvoll und gleichzeitig auch spontan verhalten sollte – also sowohl eigenständig und in definierten Grenzen unvorhersehbar agieren sollte.

Die von ihm programmierte Software ist in der Lage, das Spiel anderer Musiker zu analysieren, individuelle musikalische Spannungsverläufe zu erkennen und selbst vorzubereiten sowie schließlich selbstständig zu spielen. Da es so etwas damals nicht gab, hat er es selbst entwickelt. 1990 ergab sich die Möglichkeit, dem Programm mit Hilfe des großen Software-Hauses Steinberg zu einer professionellen Benutzeroberfläche zu verhelfen und es anderen Musikern anzubieten. Von 1992 bis 1996 wurde die erste Version weltweit vertrieben – zunächst als Atari und später auch als Mac-Vollversion.

Seither hat Henning Berg das Programm bei vielen Konzerten im In- und Ausland eingesetzt und ständig weiterentwickelt. Seit über 20 Jahren arbeitet er einer neuen Version für Windows, die vor drei Jahren fertiggestellt wurde. Schon seit 1994 hatte er regelmäßig im Duo mit dem 2015 verstorbenen englischen Pianisten John Taylor gespielt, der sich ebenfalls für die Software begeistern konnte. Wenngleich die menschliche Virtuosität und Kreativität der digitalen weit überlegen sei, so Berg, sei die Maschine in der Lage, auf mehreren Ebenen polyphone Strukturen zu erzeugen, was er als überaus reizvoll empfinde: „Niemand braucht dieses Programm wirklich, doch die Kunst lebt vom Experiment und dem Ausschöpfen aller Möglichkeiten.“

Spontane musikalische Dynamik

Der Posaunist spielte im PiPaPo-Keller insgesamt sechs einzelne Sets, die er „Rooms“ nennt: Räume, die er über die Anordnung von mehr als 150 interagierenden Modulen definiert und so die groben Möglichkeiten der Maschine vorgibt – was sie im Moment spielen, entscheiden sie autark auf der Grundlage der Töne und Phrasen, die Berg vorgibt. Auch das Ende liegt in seiner Hand. Das Dirigat bleibt bei der ersten Stimme. Begleitet wird er von bis zu zwei weiteren künstlichen Posaunen und einem digitalen Sample-Piano.

Die musikalische Dynamik entsteht spontan. Berg möchte die IT provozieren, aber nicht vorab wissen, wie das System auf seine Eingaben reagiert. „Das wäre langweilig!“ Zwar kann das Programm bestimmte Tonfolgen und Melodien erkennen – in Bensheim waren das unter anderem „Wenn ich ein Vöglein wär“ und der Standard „Ain’t Misbehavin’“. Doch was die künstlichen Kollegen damit anstellen, erlebt der Jazzer erst im Augenblick.

Der Name ist kein Zufall

Es ist ein Jammen mit „Tango“, dessen Name kein Zufall ist. „Auch das geht nur gemeinsam“, so Henning Berg im Talk mit Garvin Brod. In seinen Spiel-Räumen bewegt sich der brillante Musiker im permanenten Austausch mit dem Algorithmus. Es ist eindrucksvoll, wie die Maschine Rhythmen und Harmonien, Brüche und Stimmungen aufnimmt und die Führungsstimme weiter mit musikalischen Bildern und Dimensionen variantenreich anreichert.

Berg wiederum „antwortet“ auf die Motive des Programms, das über speziell arrangierte Modifier im Dialog mit dem echten Künstler bleibt. „Ich brauche einen Partner, der meine Sprache spricht“, beschreibt er die Parallelen von Mensch und Maschine. Das Vokabular muss stimmen, die Sätze werden dann ad hoc gebildet: abstrakt oder konkret, repetitiv oder kreativ.

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Ein besonderes Konzert im Bensheimer Jazzkeller, vor kleinem Publikum. Was erstens kaum anders zu erwarten war. Und zweitens auch egal. Nischenthemen bleiben gern unter sich. Die dabei waren, haben etwas Außergewöhnliches erlebt.

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