Stadtgeschichte - Schon einmal hat sich die Diözese Mainz von einer großen pädagogischen Einrichtung in Bensheim getrennt / Missbrauchsfälle am Jungeninternat noch immer nicht restlos aufgearbeitet

Heute die Liebfrauenschule, damals das Konvikt

Von 
Hans-Joachim Holdefehr
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Das Bischöfliche Konvikt in Bensheim in den 1970er Jahren. © Privat

Bensheim. Zwischen Unverständnis, Fassungslosigkeit und Empörung bewegen sich die Reaktionen, nachdem am 30. September die Diözese Mainz bekanntgegeben hat, dass sie sich im Zuge von Sparmaßnahmen von der Bensheimer Liebfrauenschule trennen will. Die Betroffenen vor Ort fühlen sich von der Nachricht überrumpelt. Reaktionen richten sich dabei nicht nur gegen die Entscheidung selbst. Massiv kritisiert wird auch die Art und Weise, in der sie getroffen und verkündet wurde: ohne vorherige Einbeziehung von Betroffenen. Thematisiert wird schließlich auch die grundsätzliche Frage nach dem Erziehungs- und Bildungsauftrag der Kirche. Dass Bischof Peter Kohlgraf in diesem Zusammenhang bekundet hat, „wir gestalten den Wandel unserer Kirche“, mag da schon fast zynisch anmuten.

Es ist nicht das erste Mal, dass die katholische Kirche in Bensheim Reaktionen dieser Art provoziert: Schon einmal hat sie entschieden, eine große pädagogische Einrichtung in der Stadt aufzugeben. Am 4. Juni 1980 wurde im Bischöflichen Ordinariat in Mainz beschlossen, das damalige Konvikt in Bensheim (heute das Rathaus der Stadt) zum Ende des Schuljahres 1980/81 zu schließen. Auch für diese Entscheidung hatte es zuvor keinerlei Anzeichen gegeben. Auch sie kam für unmittelbar Betroffene vor Ort deshalb völlig überraschend. Und auch damals wurden finanzielle Gründe angeführt – wobei das Konvikt voll belegt war und es Hinweise auf finanzielle Schwierigkeiten zuvor nicht gegeben hatte.

Anders als heute im Fall Liebfrauenschule mussten die Bewohner des Konvikts den anschließenden Kampf gegen die angekündigte Schließung des Hauses allerdings mehr oder weniger alleine führen. Weder der damalige Landrat noch der damalige Bensheimer Bürgermeister schalteten sich über einen Ausdruck des Bedauerns hinaus öffentlich ein, auch nicht Politiker auf Landes- oder Bundesebene. Aus der Elternschaft gab es zumindest keinen organisierten gemeinsamen Protest. In Eigenregie führten Bewohner und Zivildienstleistende des Hauses deshalb öffentlichkeitswirksame Aktionen – etwa in der Fußgängerzone – durch, verteilten Flugblätter, schrieben Petitionen, sammelten Unterschriften. Es nutzte nichts: Im Sommer 1981 war die Geschichte des Bischöflichen Konvikts in Bensheim zu Ende.

Gegründet worden war das Konvikt im Jahr 1888. In der Einrichtung lebten bis zu 80 Schüler, aufgeteilt in fünf (Alters-)Gruppen. Für Hausaufgaben-, Freizeit- und sonstige Betreuung waren pädagogische Fachkräfte zuständig, die ebenfalls im Konvikt wohnten. Zudem arbeiteten bis zu fünf Zivildienstleistende gleichzeitig im Haus. Da es sich um ein Wohninternat handelte, besuchten die Bewohner öffentliche Schulen, vor allem die Geschwister-Scholl-Schule und das AKG.

Ob das Konvikt damals tatsächlich aus finanziellen Gründen geschlossen wurde – wie von der Kirchenleitung in Mainz behauptet –, wird bis heute kontrovers diskutiert. Liegt auf der späten Geschichte des Hauses doch ein tiefschwarzer Schatten, der noch immer ein nicht abgeschlossenes Thema ist: Es geht um sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen.

Revolutionäre Neuerungen

In den 70er Jahren schien das Konvikt eine wahre Blütezeit zu erleben. Der damals neue Leiter führte geradezu revolutionäre Regelungen ein, schuf erstmals Stellen für Zivildienstleistende und ließ das Haus zu einer Vorzeigeeinrichtung mit offenem Charakter und weitreichender Freiheit und Selbstverantwortung für die Bewohner werden. Es wurden von den Bewohnern gewählte Gruppensprecher eingesetzt, die mitreden konnten, wenn es um die Belange des Hauses ging. Die älteren Konviktler durften bis 22 Uhr Besuch auf ihren Zimmern empfangen. Die noch Älteren hatten eigene Schlüssel und durften das Haus verlassen, ohne dass es kontrolliert wurde. Gleiches galt für ihre Besucher. Im Keller des Konvikts war eine Bar eingerichtet, die ebenfalls von älteren Bewohnern in Eigenregie geführt wurde. In einer Wohnung an der Nibelungenstraße existierte zudem eine sogenannte „Außenstelle“, in der bis zu acht ältere Konviktler ebenfalls eigenständig als Wohngemeinschaft lebten.

Eben jener Leiter aber, der ob seiner Verdienste weithin anerkannt war und teilweise geradezu verehrt wurde, stand auch im Mittelpunkt, als Ende der 70er Jahre Andeutungen über sexuellen Missbrauch im Konvikt die Runde machten. 1979 wurde der Konvikt-Leiter völlig überraschend und kurzfristig vom Bischöflichen Ordinariat auf eine Stelle im Ausland versetzt. Zum Abschied erhielt er wegen besonderer Verdienste noch die Ehrenplakette der Stadt Bensheim – eine Auszeichnung, die ihm 2010 wieder aberkannt wurde. Es folgten im Konvikt bis zur Schließung 1981 zwei letzte, teilweise turbulent verlaufende Jahre mit zwei neuen Rektoren, dann war Schluss.

Was in den mittleren bis späten 70er Jahren im Konvikt vorgefallen ist, wurde öffentlich erst im Jahr 2010 allmählich deutlich, als das Thema sexueller Missbrauch auch medial eine immer größere Aufarbeitung erfuhr. Damals wurde auch bekannt, dass der frühere Konvikt-Leiter bereits 1974 von einem bayerischen Amtsgericht wegen Missbrauchs von Schutzbefohlenen verurteilt worden war. Trotzdem hatte die katholische Kirche – die davon wusste – keinen Anlass gesehen, den Mann von seinen pädagogischen Aufgaben in Bensheim zu entbinden, weshalb er dort bis 1979 ungehindert wirken konnte. Zur Versetzung des Leiters ins Ausland maßgeblich beigetragen haben dürfte, dass ein pädagogischer Mitarbeiter des Konvikts Ende der 1970er Jahre unter Nennung konkreter Vorwürfe bei der Diözese Mainz auf seine Ablösung drängte. Im Jahr 2007 erhielt der Ex-Konviktler Johannes Chwalek Aussagen von anderen früheren Konvikt-Bewohnern über sexuelle Übergriffe und verwertete sie andeutungsweise in einem Buch. 2010 bestätigte die Diözese, dass sich ein Missbrauchsopfer aus dem Konvikt gemeldet habe. Außerdem tauchte 2010 in den Archiven des Bischofssitzes ein unbeschrifteter Aktenordner auf, der einen bereits 1981 eingegangenen Brief eines Ex-Konviktlers mit konkreten Vorwürfe gegenüber dem früheren Leiter enthielt.

Frühe Hinweise, späte Eingeständnisse

Mindestens zwei konkrete Hinweise gibt es, dass die Diözese Mainz bereits früh von Fällen des sexuellen Missbrauchs am Bensheimer Konvikt wusste. Zum einen ist da der pädagogische Mitarbeiter, der Ende der 70er Jahre die Kirchenleitung aufforderte, den Leiter des Hauses abzulösen, und dies mit konkreten Vorwürfen begründete.

Zum anderen ist da ein Brief an den damaligen Mainzer Bischof Hermann Volk, versehen mit dem Datum 23. Februar 1981. In ihm schildert der Verfasser eindeutig, dass Schüler im Bensheimer Konvikt gezwungen worden seien, „sexuelle Handlungen“ an ihrem Heimleiter vorzunehmen. Der Brief aber verschwand offenbar in den Archiven der Diözese – abgelegt in einem unbeschrifteten Aktenordner. Von dort tauchte er erst 2010 wieder auf, als bundesweit der sexuelle Missbrauch in Einrichtungen der Kirche und in nicht-kirchlichen Internaten zu einem Thema wurde.

Heute, gut 40 Jahre nach den Missbrauchsfällen am Konvikt und gut 10 Jahre nach den zumindest offiziell ersten Erkenntnissen der Diözese, bekundet der amtierende Mainzer Bischof Peter Kohlgraf, man schaue in einen „Abgrund“. Die Zahl der Missbrauchsfälle in der Diözese Mainz sei um ein Vielfaches höher als zuvor angenommen. Täter seien auch nach gravierenden Fällen meist nur versetzt worden, Opfer seien unter Druck gesetzt und zahlreiche Fälle vertuscht worden.

Der Regensburger Rechtsanwalt Ulrich Weber, der die aktuelle Untersuchung im Bistum Mainz leitet und seinen Abschlussbericht voraussichtlich Anfang 2022 vorlegen wird, spricht davon, dass selbst Fälle, die noch nicht verjährt waren, von der Bistumsleitung nicht zur Anzeige gebracht wurden. Beschuldigten Mitarbeitern sei vielmehr oft ein nahezu grenzenloses Vertrauen entgegengebracht worden. hol

Ehemalige Mitarbeit Hans-Joachim Holdefehr ist Redakteur beim Bergsträßer Anzeiger.

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