Geschwister-Scholl-Schule

Heimatgeschichte über die Grenzen der Region hinaus

Seit drei Jahrzehnten leistet die Geschichtswerkstatt Pionierarbeit. Nun ist sie selbst Teil eines internationalen Forschungsprojektes

Von 
Marvin Zubrod
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Peter Lotz (l.) und Franz Josef Schäfer, die Initiatoren der Geschichtswerkstatt an der Geschwister-Scholl-Schule, mit der promovierten Historikerin Feride Durna, die ein Forschungsprojekt über die Geschichtswerkstatt angestoßen hat. © Thomas Zelinger

Bensheim. Am Anfang ist ein Fund. Mitte der Neunzigerjahre ist das ehemalige Tonwerksgelände in Heppenheim während der Sommerferien ein kleiner Abenteuerspielplatz. Dort liegen Trümmer der alten Ziegelgebäude; für drei neugierige Schüler der Bensheimer Geschwister-Scholl-Schule ist das eine willkommene Einladung zum Feuermachen. Doch da ist noch etwas. Zwischen all den Trümmern liegen Papiere, offenbar alte Geschäftsunterlagen des Tonwerksbetriebs, auf denen vereinzelt Hakenkreuze zu entdecken sind.

Die Schüler werden neugierig, stöbern weiter und entdecken immer mehr Hakenkreuze. Nach den Sommerferien überliefern die drei Schüler dann ihren Lehrern Peter Lotz und Franz Josef Schäfer ihren Fund. Für die beiden Pädagogen ist klar: „Daran wollen wir näher forschen“, blickt Lotz nun im Pressegespräch im BA-Medienhaus auf die Anfänge zurück. Die mittlerweile pensionierten Lehrer haben die Geschichtswerkstatt in den Neunzigerjahren gegründet und zu einer anerkannten Einrichtung für Heimatgeschichte gemacht. Heute führen die Lehrer Frank Maus und Peter Ströbel diese Arbeit fort.

Mittlerweile hat es die Geschichtswerkstatt bis über die Grenzen der Region hinaus geschafft. Die promovierte Historikerin Feride Durna hat als Schülerin in der Geschichtswerkstatt selbst Forschung zum Thema Synagogenbrand betrieben. Heute lehrt sie an der Türkisch-Deutschen Universität Istanbul. Nun möchte sie in einem neuen Projekt über die Bensheimer Geschichtswerkstatt und deren Wirken forschen. Ihr Projekt trägt den Titel: „Geschichte machen und Sinn stiften: Eine phänomenologische Analyse der Erfahrungen der Geschwister-Scholl-Geschichtswerkstatt“. Vor Kurzem hat Durna die Arbeit der Geschichtswerkstatt sogar auf einer internationalen Fachtagung vorgestellt, dem „International Symposium on History Education“.

Gemeinsam mit ihrem Kollegen Eyüp Cücük möchte die Forscherin nun herausfinden, wie Schülern an der Geschwister-Scholl-Schule Geschichte vermittelt wird, das in der Türkei das zweitunbeliebteste Fach sei, direkt hinter Mathematik. Daher hofft die Historikerin mit diesem Aufruf im Bergsträßer Anzeiger, ehemalige Teilnehmer der Geschichtswerkstatt zu erreichen, die ihr in einem Interview berichten, wie sie die dortige Arbeit in Erinnerung behalten haben. „Oft wird Geschichte nur auswendig gelernt“, sagt die Expertin.

Nicht so in Bensheim. Seit 1998 gibt es offiziell die Geschichtswerkstatt, in der Schüler seit fast drei Jahrzehnten zur Lokalgeschichte forschen. Dort lernen sie nicht nur das wissenschaftliche Handwerk wie Quellenforschung, das später den Einstieg ins Studium erleichtert, sondern sie bringen auch neue Erkenntnisse zu Tage.

„Grabe, wo du stehst“, ist seit Jahren der Leitspruch. „Durch Graben entsteht etwas Neues“, sagt Lotz. Bisweilen auch Unangenehmes. Vor zwölf Jahren beschäftigten sich die Schüler mit dem Leben des Reichenbachers Adam Essinger. Dieser wurde in Frankreich wegen Kriegsverbrechen zweimal zum Tode verurteilt; in einem dritten Verfahren wurde jedoch die Todes- in eine Haftstrafe umgewandelt. Im Jahr 1951 kehrte Essinger als letzter Kriegsheimkehrer des Lautertals unter großem Jubel in die Heimat zurück.

Die Untersuchungen der Geschichtswerkstatt belasteten den im Jahr 1962 verstorbenen Essinger jedoch. „Es war sehr bedrückend, der Tochter Essingers dann auf der Kuralpe im Lautertal die Forschungsergebnisse zu überbringen“, erzählt Lehrer Lotz. Trotzdem habe sich die Familie bei den Schülern für die Arbeit bedankt. Eine rund 1.300 Seiten umfassende Dokumentation über die Opfer des Nationalsozialismus in Seeheim-Jugenheim gehört ebenso zum Schaffen der Geschichtswerkstatt. „Mich hat die Arbeit dort sehr sensibilisiert für benachteiligte Menschen“, blickt Forscherin Durna zurück.

Wer selbst mal an der Geschichtswerkstatt teilgenommen hat, kennt die intensive Betreuung der Lehrer, weiß aber auch, dass das Niveau hoch ist: „Die Schüler waren der Ansicht, dass das, was sie eingereicht haben, druckreif ist“, sagt Lehrer Schäfer und schmunzelt. Denn meistens gaben er und Lotz den Schülern nach Abgabe der ersten Fassung weitere Materialien – meist aus Archiven – an die Hand. Das war zwar mehr Arbeit für die Schüler, zugleich wurde aber die Forschung dadurch vertieft. Heraus kam zum Beispiel ein umfassendes Werk über die Geschichte der Auerbacher Firma Sanner, die weltweit führend ist in der Entwicklung von Medizinprodukten und bei Verpackungen für Pharmazeutika und Nahrungsergänzungsmitteln.

Was aus heutiger Sicht in den Anfängen besonders war: Es gab in den frühen Zweitausenderjahren noch kein Zentralabitur in Hessen. Schäfer und Lotz gab das die Möglichkeit, bestimmte Schwerpunkte im Unterricht zu setzen und die Projekte der Geschichtswerkstatt weiter zu intensivieren. „Ich hatte das Gefühl, alle anderen Fächer sind gebunden, aber Geschichte war freier“, sagt Forscherin Durna über ihre eigenen Erfahrungen. Nach dem Abitur an der Geschwister-Scholl-Schule studierte sie Philosophie und Geschichte an der Universität Heidelberg, später promovierte sie in Barcelona. In ihrer Dissertation hat sie untersucht, wie Minderheiten in Schulbüchern in Deutschland, Spanien und der Türkei dargestellt werden und wie das Nationalbewusstsein in diesen Ländern vermittelt wird.

Ein Schwerpunkt der Geschichtswerkstatt liegt auf der Erforschung der NS-Zeit. Zu den Projekten gehört auch ein Besuch der Gedenkstätte in Hadamar. Von 1941 bis 1945 wurden dort fast 15.000 Menschen, häufig psychisch Erkrankte und Menschen mit Behinderung, unter dem Vorwand der „Euthanasie“, eines vermeintlich „guten Todes“, von den Nazis ermordet. Einmal bekamen die Schüler sogar die Original-Akte eines Tötungsopfers zu sehen. Zudem hat sich die Geschichtswerkstatt in einer Arbeit mit dem Bensheimer Juden Hans Sternheim befasst, der vor der NS-Diktatur in die Vereinigten Staaten floh, den Kontakt zu Bensheim aber nie abreißen ließ. Später veröffentlichte Sternheim seine Memoiren über seine Bensheimer Jugend im Bergsträßer Anzeiger. Das wiederum nahmen Schäfer und Lotz gemeinsam mit Schülern zum Anlass, der Geschichte der Bensheimer Juden und dem Synagogenbrand ein ganzes Buch zu widmen.

„Die Schüler sind uns nicht gerade um den Hals gefallen“, räumt Lotz über die aufwendige Forschungsarbeit in den Archiven ein. Doch wenn dann einige Monate, manchmal auch Jahre später, die Arbeit publiziert wurde, blickten sie stolz darauf zurück. Eine wichtige Erkenntnis aus der Arbeit in der Geschichtswerkstatt ist: Viele historische Fragen lassen sich nicht klar mit ja oder nein beantworten. „Historische Forschung ist Forschung in Grautönen“, sagt Lotz.

Viel Aktenarbeit gehört dazu, in den Anfangsjahren sei man hierbei oft „gegen eine Wand gelaufen“. Lasst die damalige Zeit in Ruhe, sei ein häufig gehörter Einwand gewesen. Doch Lotz und Schäfer blieben beharrlich. „Wir haben immer das gemacht, von dem wir überzeugt waren“, sagt Lotz. Wenige Jahre später war die Geschichtswerkstatt eine anerkannte Einrichtung; die beiden Lehrer wurden zu Beginn der Zweitausenderjahre sogar auf den Deutschen Archivtag in Stuttgart eingeladen. Auch gesellschaftlich habe sich etwas getan. „Heute ist Forschung Auftrag. Es kann sich keine Gemeinde mehr erlauben, ganz ohne Rückblick auf ihre eigene Vergangenheit auszukommen“, sagt Lotz.

Auch der Bergsträßer Anzeiger wurde auf die Arbeit aufmerksam. Der langjährige BA-Chefredakteur Karl-Heinz Schlitt räumte Auszügen aus den Forschungspublikationen der Geschichtswerkstatt regelmäßig einen Platz in der Zeitung ein. „Dafür sind wir ihm bis heute dankbar“, sagt Lotz. Mittlerweile haben die Schüler weitere Ausspielwege entdeckt und ihre Forschungsarbeit über das Kaufhaus Ganz in einem Kurzfilm präsentiert. Ihren Wurzeln, der Erforschung von Heimatgeschichte, bleibt die Geschichtswerkstatt jedoch treu – und wirkt damit bis über die Grenzen der Region hinaus.

Ehemalige Schülerinnen und Schüler der GSS, die in der Geschichtswerkstatt mitgearbeitet haben und für ein Interview mit Feride Durna zur Verfügung stehen, können sich unter der folgenden Mail-Adresse bei ihr melden: Fedurna@gmail.com.

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