Bensheim. Manchmal sind es die noch unbekannteren, eher kleineren Acts, die beim Konzertbesuch ein Aha-Erlebnis mit sich bringen. Die norwegische Band „Pristine“ ist so ein Juwel, das hierzulande scheinbar nur Eingeweihten bekannt ist. Anders lässt sich der doch ziemlich überschaubare Besuch in der Alten Güterhalle nicht erklären, als dort die Formation zusammen mit ihrer Vorgruppe „Tame The Abyss“ Station macht.
Vor Corona muss die Band-Besucher-Welt wohl noch in Ordnung gewesen sein. Denn bei der Deutschlandtour 2019 hatte die Truppe 17 ausverkaufte Auftritte in Folge, ist den einschlägigen Medien zu entnehmen. Das Rockmagazin „eclipsed“ nannte sie damals „eine der Vorzeigebands des Genres“ Hardrock. Wobei das zu kurz gegriffen ist. Es sind mindestens so viel Blues-Elemente auszumachen. In den neueren Stücken kommt ein progressiver Touch hinzu, auch weht eine psychedelische Brise.
Die Gruppe aus Tromsø, weit jenseits des Polarkreises, liefert einen druckvollen Retro-Sound ab, der schnurstracks in die 70er Jahre führt. So lassen sich Einflüsse von Black Sabbath oder auch Led Zeppelin heraushören. Doch ein kurzer Break, und alles ist wieder anders. Da klingen dann plötzlich die Schweden von „Blues Pills“ durch, ebenfalls eine Female-Fronted-Band, mit denen „Pristine“ auch schon auf Tour waren. Nicht zu vergessen die sparsam instrumentierten Balladen.
Über allem thront Heidi Solheim, die rothaarige Frontfrau. Sie ist der Kopf, schreibt Texte und Musik im Alleingang, alles ist auf sie zugeschnitten. Das zeigt sich bei jedem Song auf der Bühne. Ihre Mitmusiker treten eher wenig in Erscheinung, glänzen aber umso mehr mit ihrem musikalischen Können. Gitarrist Espen Elverum Jakobsen und Keyboarder Anders Oskal sind noch am präsentesten, wenn sie sich in ihren Soli immer mehr hochschaukeln. Bassist Åsmund Wilter Eriksson und Schlagzeuger Kim Karlsen als Rhythmus-Sektion treten relativ wenig in Erscheinung.
„The Lines We Cross“ hieß 2023 die Rückkehr der Gruppe nach der Corona-Pause – und mit diesem Album ist sie immer noch auf Tour. Die Band hat ihre Wurzeln in den ausufernden Live-Auftritten, was sich immer wieder an den Improvisationen und den Soli zeigt. Ohne die wären die Stücke nur die halbe Miete. Kräftige, erdige Rock- und Blues-Sounds wechseln sich ab mit psychedelischen Elementen und Power-Balladen. Dass „Pristine“ dieses Songwriting beherrscht, zeigt „Carnival“, in der Studio-Aufnahme mit dem Arctic Philharmonic Orchestra produziert.
Bedauerlich ist, dass der Sound scheinbar auf eine volle Halle im Musiktheater Rex ausgerichtet ist. Doch da diese viele Lücken aufweist, wird er nicht abgebremst. Was dazu führt, dass selbst hinten noch ein heftiger Klangteppich ankommt, der wenig Raum für Differenzierungen lässt. Dabei wären die oft das Salz in der Suppe. Denn die Lieder haben Pfiff. Sie sind kein Hardrock-Einheitsbrei, sondern mit Ecken und Kanten komponiert. Immer wenn man denkt, man weiß, wie der Hase läuft, kommt ein Break und alles ist anders.
Daran hat der Mann an den sechs Saiten, Jakobsen, einen erklecklichen Anteil. Er ist keiner, der versucht, seinem Instrument möglichst viele Töne in einer Minute zu entlocken. Weniger ist oft mehr, was dann die gespielten Töne umso markanter macht. Besonders gut kommt das zum Ausdruck, wenn Kollege Oskal auf seiner Orgel zaubert und es versteht, einen großen Spannungsbogen zu erzeugen.
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