Bensheim. Der Pinsel kitzelt am nicht vorhandenen Bart. Der kleine Junge auf dem improvisierten Friseurstuhl kann sich das Lachen kaum verkneifen. Barber Walid Haji grinst ebenfalls, pinselt aber professionell die abgeschnittenen Haare vom Kinn und entlässt seinen „Kunden“ frisch und schnittig gestylt.
Im Zeltdorf für Geflüchtete auf dem Festplatz in Bensheim ist die Stimmung bei den Kindern an diesem Montagmorgen heiter bis ausgelassen. Das liegt einerseits am Besuch des Teams vom Newstyle Barbershop aus Lorsch. Rabih Dumo ist mit fünf Kollegen und jeder Menge Ausrüstung im Camp aufgeschlagen. Es wird geschnitten, rasiert und gekämmt, am Ende des besonderen Arbeitstages werden sie 80 Frauen, Mädchen, Jungs und Männern eine neue Frisur verpasst – oder die alte wieder hergestellt haben.
„Wir hatten das Angebot kurzfristig bekanntgemacht, wussten aber nicht wirklich, ob es angenommen wird“, erklärt Bianca Scholz. Die Vorsitzende von Wir sind Bergstraße hat mit ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern den Termin organisiert und musste sich schon kurz nach „Ladenöffnung“ im Begegnungszelt keine Sorgen machen. Die Bewohner kamen und warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren.
Unermüdlich Spenden gesammelt
Die Vereine Wir sind Bergstraße und Tour der Hoffnung haben in den vergangenen Wochen unermüdlich Spenden für die Menschen in der Ukraine gesammelt und Transporte auf den Weg gebracht. Darüber hinaus geht es den Ehrenamtlichen aber darum, den Geflüchteten in Bensheim und Umgebung zu helfen. Seit die Einrichtung am Berliner Ring vor knapp zwei Wochen aktiviert wurde, sorgen sie nun in Zusammenarbeit und Absprache mit dem Betreiber, dem DRK-Kreisverband, für Abwechslung.
Dazu gehört auch der Aufbau einer Kinderbetreuung. Ein Teil des weitläufigen Zeltes hat sich am Wochenende in ein kleines Spielparadies verwandelt. Aus der Kita Gartenstraße konnten als Spende gebrauchtes Mobiliar und Spielzeug übernommen werden, Regale und Aufbewahrungsboxen hat der Verein in einem schwedischen Möbelhaus gekauft. „Das Wohl der Kinder liegt uns besonders am Herzen. Es war und ist uns wichtig, etwas zu unternehmen“, so Scholz.
Die Resonanz auf einen kleinen Spendenaufruf war enorm: Ausmalbücher, eine wertige Holzküche, Stifte, Stickeralben, Stofftiere, Tischtennisschläger, Federballspiele, Blöcke, Sitzkissen – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Zwischen der Lagerhalle auf dem Gelände der Firma Sartorius und dem Festplatz pendelte der Vereinsbus mehrmals hin und her. Und dürfte auch in den nächsten Tagen immer wieder unterwegs sein. „Wir sehen ja, was fehlt, was gut angenommen wird und bekommen immer Rückmeldung von der Lagerleitung, mit der wir sehr gut und vertrauensvoll zusammenarbeiten“, betont Bianca Scholz.
Ein Renner neben Bällen und Schlägern ist alles, was Räder hat, vom Roller bis zum Fahrrad. Dass der Hallenboden ein absolut geeigneter Untergrund für ein paar Runden auf dem Mountainbike ist, bewies beim Ortstermin ein Junge, der dort fröhlich in die Pedale trat. „Wenn wir mit dem Bus ankommen, werden wir sofort von einer Gruppe umringt, die uns die Sachen förmlich aus den Händen reißt“, freut sich die Vorsitzende über die Dankbarkeit und die Freude, die sie den Jüngsten im Lager machen können.
Für die Betreuung in der Kinderinsel konnten über das Familienzentrum, mit dem die Vereine ebenfalls eng kooperieren, sechs ukrainische Mütter gewonnen werden, die mit den Kleinen basteln, ihnen helfen und dem mitunter ausgelassenen Treiben im Spielbereich Struktur verleihen.
Das Versorgungspaket von Wir sind Bergstraße und Tour der Hoffnung beinhaltet aber noch deutlich mehr. So wird dreimal pro Woche frisches Obst in das Zeltdorf gebracht, zuletzt besorgte man außerdem Haferflocken für Diabetiker. Ansprechpartner für die Aktiven ist Jens Vahldiek. Er ist beim DRK für die Leitung der Flüchtlingsunterkünfte verantwortlich. „Wir sind für die ehrenamtliche Unterstützung sehr dankbar, das hilft uns sehr.“ Neben den beiden Vereinen gebe es auch weitere Helfer von außen, die sich einbringen oder Spenden abliefern.
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180 Personen im Camp
Zurzeit leben nach Angaben des Leiters 180 Personen im Camp, darunter 45 Kinder. Am Donnerstag wird der nächste Bus erwartet. Mit wie vielen Neuzugängen dann zu rechnen ist, lässt sich nach wie vor kaum abschätzen. Von den drei Schlafzelten mit einer Kapazität von 326 Plätzen sind bisher zwei hergerichtet und eines belegt worden. „Wir haben momentan noch die Möglichkeit, ein bisschen mehr Privatsphäre zu ermöglichen, weil wir nicht komplett auslasten müssen“, erläutert Vahldiek.
Für seinen offenen und freundlichen Umgang werde er von den Menschen hier sehr geschätzt, verdeutlicht Bianca Scholz. „Wir unterstützen ihn deshalb sehr gerne mit allem, was fehlt.“ Für die Geflüchteten sei es wichtig, Ansprechpartner zu haben, die zuhören und sich kümmern.
Bis zu 1000 Personen können in der zentralen Unterkunft auf dem Festplatz untergebracht werden. Ob in den nächsten Wochen tatsächlich alle Betten benötigt werden, muss abgewartet werden. Die Vorbereitungen für eine Vollauslastung hat der Kreis jedenfalls getroffen. Für die beiden Vereine wäre ein höherer Zustrom ebenfalls eine Herausforderung, der man sich aber stellen würde.
Seit Ende Februar haben die Verantwortlichen nicht nur ein stabiles Netzwerk aufgebaut, sondern auch Strukturen etabliert. Ähnlich wie das Familienzentrum im Café Storch soll es einen Aushang an den Zelten geben, über den die Bewohner mitteilen können, was sie benötigen und wem was fehlt.
Mit Saxofon geflohen
Als Kontaktbörse funktioniert das nach Auskunft von Scholz in der Innenstadt bereits sehr gut. Sachspenden wie Föhns, Bügeleisen, Inliner oder Fahrräder konnten weitergegeben werden – oder ein Buggy für eine junge Mutter, deren Sohn nicht gut laufen kann.
Wie weit die Vernetzung der Ehrenamtlichen reicht, zeigt auch das Beispiel eines Jungen, der aus seinem Haus kein Spielzeug, sondern sein Saxofon gerettet hat. Das Familienzentrum konnte über die TSV Auerbach einen Musiklehrer organisieren. Jedoch fehlte es an einer Fahrgelegenheit. Mitglieder von Wir sind Bergstraße bringen ihn nun mit dem Vereinsbus (zum Peace-Shuttle umgetauft) einmal in der Woche zum Unterricht.
„Alle können wir nicht glücklich machen, aber Interesse zeigen an den einzelnen Schicksalen und gemeinsam nachdenken, wie man helfen kann“, bilanziert die Vorsitzende das bisherige Engagement, mit dem sie vermutlich mehr Menschen glücklich gemacht haben, als ihnen bewusst ist.
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