Bensheim. Das Bensheimer Wappen ziert bekanntlich der Heilige Sankt Georg, der mit einer Lanze einen grünen Drachen durchbohrt. Schon verwunderlich, dass nicht längst Tierschützer gegen das zur Schau gestellte Meucheln des schuppigen Feuerspuckers protestiert haben.
Wobei es vermutlich schon heimliche Überlegungen gibt, der größten Stadt an der Bergstraße ein neues Imagetierchen zu verpassen. Schließlich macht seit dem Wochenende eine kleine, leicht übergewichtige Wanderratte aus Auerbach international Karriere. Der Nager hatte sein Hüftgold unterschätzt und war im Gullydeckel steckengeblieben. Kann passieren. Wer nach der saisonal üblichen Weihnachtsvöllerei jemals probiert hat, durch den Spieltunnel seiner kleinen Tochter zu kriechen und kurz vorm rettenden Ufer zu allgemeinen Belustigung auf Grund gelaufen ist, dürfte sich in die – Verzeihung – fette Ratte hineinversetzen können.
Unverletzt in den Untergrund
Für den kleinen Dicken ging es jedenfalls wie berichtet weder vor noch zurück. Berufstierretter Michael Sehr rückte an, rief Kameraden der Feuerwehr Auerbach zu Hilfe, schraubte den Gefangenen aus der unfreiwilligen Rattenfalle – und das Tierchen verschwand unverletzt im Untergrund.
Zur Belohnung gab es von Nachbarskindern ein selbst gemaltes Bild mit dem Protagonisten des Nachmittags. Die Story ist hinlänglich bekannt und wäre als lokale Posse längst zu den Akten gelegt – wenn das Thema nicht plötzlich Wellen geschlagen hatte. Überregionale Medien berichteten über den Einsatz, die BILD sprach gar von „Deutschlands beklopptestem Einsatz“. Damit aber nicht genug. Am Dienstag sprangen unter anderem die BBC und der London Evening Standard in ihren Online-Ausgaben auf den Ratten-Retter-Zug auf und erzählten die Geschichte der „fat rat“ from Germany.
Selten hat ein eigentlich ungern gesehener Gast aus Bensheim so rasant für Aufmerksamkeit gesorgt und Werbung für sein Heimatstädtchen gemacht. Wobei nicht einmal gesagt ist, ob der spitzzahnige Fellträger ein echter Bensemer ist. Stichwort Wanderratte. Möglicherweise hatte man es mit einem Einwanderer aus der Nachbarschaft zu tun. Und ob die hiesigen Stadtväter so stolz auf den kurzzeitig Prominenten sind, sei auch mal dahingestellt.
Letztlich viel Ratte um fast Nichts. Oder? Immerhin dürfte der Berufstierrettung der außergewöhnliche Sonntag ein Imageschub verpasst haben. „Die Medienanfragen sind extrem. Alle bekannten Sender und Verlage haben sich gemeldet – von ABC News, CBS, BBC, Independent, FuzzBeed, BILD, Pro 7, Sat 1, RTL, SWR, Polen, Kanada, Schweiz – die ganze Welt eigentlich“, erzählen die Tierretter.
Finanziell bleibt vom ungewollten PR-Coup bisher allerdings wenig hängen. Man habe die großen Medienanstalten zwar um Spenden gebeten, „weil sie mit unserer Arbeit jetzt ja Geld verdienen, aber bisher sind noch keine 50 Euro zusammengekommen“. Dabei sind die Helfer in Not auf Spenden angewiesen, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. „Jeder kann uns unterstützten, über Paypal an info@tierrettung-rhein-neckar.de“, hofft das Presseteam auf finanzielle Unterstützung. Allein das Youtube-Video von der Rettung wurde bislang mehr als 700 000 Mal angeklickt.
Davon abgesehen sind die Einnahmequellen überschaubar. Vereinzelt gibt es Verträge mit Kommunen, bei privaten Einsätzen werden kleine Aufwandsentschädigungen berechnet, die meist bei Weitem die Kosten nicht decken. In der Schillerstraße half man kostenlos aus.
Keine Rechnung von der Feuerwehr
Der stellvertretende Stadtbrandinspektor Thomas Strößinger von der Auerbacher Feuerwehr hofft trotzdem, dass bei den ehrenamtlichen Helfern nach der Aktion etwas hängenbleibt. Es sei eine wichtige Arbeit, die man unterstützen müsse. Die Brandbekämpfer aus dem Stadtteil wurden in den vergangenen beiden Tagen ebenfalls von Anfragen und Mails aus der ganzen Welt überrollt.
„Man hat den Eindruck, dass nicht mal Karl Lagerfeld so viel Aufmerksamkeit gekriegt hat wie diese Ratte“, meint Strößinger im Gespräch mit dieser Zeitung. Der Anteil der Feuerwehr sei allerdings eher gering gewesen. Man habe lediglich den Kanaldeckel kurz angehoben und wieder geschlossen. Eine Rechnung für die Alarmierung der sieben Männer werde man nicht stellen.
„Wir werden zu so vielen Einsätzen gerufen, die sich letztlich als Fehlalarm entpuppen. Da kann man auch mal drei Minuten Zeit dafür investieren.“ Hätte man den Einsatz abrechnen wollen, wäre man unterm Strich bei weniger als 100 Euro rausgekommen, so Strößinger. Er äußerte sich am Mittwoch ebenso wie viele andere verwundert darüber, dass es der übergewichtige Nager zu einer weltweiten Kurzzeit-Berühmtheit schaffte. „Eigentlich haben wir doch wichtigere Themen in der Welt.“
Nicht nur deshalb sollte man die Daumen drücken, dass sich keine gut genährten Nachahmungsratten finden, die über den Gullydeckel den Weg ans Tageslicht suchen.
Was man bei all dem Rummel ohnehin nicht vergessen sollte: Wanderratten gelten als Krankheitsüberträger, vermehren sich mitunter rasant und stehen nicht auf der Roten Liste gefährdeter Arten. Wer im heimischen Keller auf ein Nest stößt, wird wohl eher den Kammerjäger statt die Tierrettung rufen.
Auch die Berufstierretter müssen sich für ihr Vorgehen Kritik anhören. Michael Sehr betont aber, dass er es jederzeit wieder so machen würde wie am Sonntag.
2006 als „Tierambulance Ludwigshafen“ gegründet
Die Berufstierrettung hat ihre Wurzeln in der von Michael Sehr 2006 in Eigeninitiative gegründeten „Tierambulance Ludwigshafen“.
Mittlerweile rücken Sehr und sein Team im Jahr zu mehr als 1700 Einsätzen aus. 2019 wurde man bereits knapp 250 Mal alarmiert.
Ratten-Rettungen stehen eher selten auf dem Tagesplan der Helfer. Hauptsächlich befasst man sich mit Sicherstellungen (844 Einsätze in 2018). Das heißt, tierschutzwidrig gehaltene Tiere müssen von den Behörden beschlagnahmt werden. Die Berufstierretter unterstützen in diesem Fällen die Polizei.
Ansonsten kümmerte man sich im vergangenen Jahr um Hunde und meist verwilderte Hauskatzen, rettete 45 Igel, 33 Füchse, 29 Steinmarder, 14 Feldhasen, 165 Tauben, 133 Wildenten und 65 Gänsearten.
Den aufwendigsten Einsatz hatte man, als es darum ging, drei Fuchsjunge einzufangen. Die Berufstierretter lagen dafür tagelang Wache. „Tatsächlich konnten wir die Tiere auch einfangen.“
Als eine der ersten sach- und fachkundigen Tierrettungen in Deutschland verfügt die Mannschaft über verschiedene Kooperationsverträge, wird von Behörden als Fachberater hinzugezogen und mit Sicherheitsaufgaben beauftragt.
Weitere Informationen – auch zu den Spendenmöglichkeiten – unter www.tierrettung-rhein-neckar.de. dr
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