Ein Klavier mit Giraffenhals

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Dieses besonders edle Ausstellungsstück gehört zu den ersten Objekten, die im Museum gezeigt wurden. Schon gleich anlässlich der Gründung 1909 wurde es von Bensheimer Bürgern gestiftet. Aus welchem Haushalt das ausgefallene Musikinstrument ursprünglich stammte, ist nicht bekannt. Gebaut wurde es jedoch in Wien. Man kann aber davon ausgehen, dass es zuvor in Bensheim aufgestellt war und nun im Museum die Lebenswelt des gehobenen Bürgertums in der Stadt illustrieren sollte.

„Das diente dazu, die Bensheimer städtische Gesellschaft von den bäuerlichen Gemeinden des Umlands abzugrenzen“, erläutert Museumsleiter Christoph Breitwieser. „Die Biedermeierausstellung war als Gegenbild zur Odenwälder Bauernstube gedacht, die ebenfalls von Anfang an zur Dauerausstellung des Museums gehörte.“

In der Biedermeierzeit galten Giraffenklaviere für eine gewisse Zeit als der letzte Schrei unter den Bildungsbürgern. Damals entdeckte die bürgerliche Familie die Hausmusik für sich. Deren Wohnraum war jedoch viel kleiner als die Festsäle des Adels, die als Vorbild dienten. Man brauchte also platzsparende Klaviere, die man vor eine Wand stellen konnte.

Die Klavierbauer erfanden dafür spezielle Hammerklaviere mit senkrecht stehendem Resonanzraum, wie die ebenfalls sehr dekorativen symmetrischen Pyramidenflügel, die Lyraflügel oder eben die Giraffenflügel. Diese wurden besonders beliebt, weil ihre Form an den Hals einer Giraffe erinnerte.

Das in Bensheim ausgestellte Instrument aus den 1820er Jahren wurde aber vermutlich noch nicht unter dem Namen Giraffenflügel verkauft, denn damals waren Giraffen in Europa noch fast unbekannt. Schon bald aber wurden sie zum Modetier: 1827 wurde die erste lebende Giraffe als Geschenk des ägyptischen Vizekönigs nach Frankreich gebracht. In Paris zog sie in den ersten sechs Monaten 600 000 Besucher an.

Ein frischer Wind in der Stadt

Auch der Wiener Tierpark erhielt 1828 vom Vizekönig von Ägypten eine Giraffe, die für große Begeisterung sorgte. Als Motiv fand sie sich in der Mode, den Frisuren, bei Aschenbechern und Trinkgefäßen. Sogar ein eigener Tanz wurde erfunden, der Giraffen-Galopp. Doch das Interesse verlor sich bald. Nach 1830 ebbte die Produktion der nach dem beliebten Tier benannten Giraffenflügel deutlich ab. Deshalb sind diese Instrumente heute rar und als Museumsstücke sehr gesucht.

Durch Bensheim wehte damals, in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, ein frischer Wind. Die alten Stadtmauern wurden niedergelegt. An der Bergstraße wuchs der Personen- und Güterverkehr, das erste Gymnasium und das Lehrerseminar wurden gegründet, und der Bau der neuen Kirche am Marktplatz nach den Plänen von Georg Moller begann.

Handel und Gewerbe blühten, Bensheim wurde in dieser Hinsicht als nach Darmstadt und Offenbach stärkste Stadt in der Provinz Starkenburg angesehen. Welche Familie auch immer den Giraffenflügel für sich anschaffte, man darf annehmen, dass sie zu der gedeihenden gewerblichen Führungsschicht gehörte, die vor der Industrialisierung die Stadt dominierte.

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