Bensheim. „Ich dachte, mein Kind stirbt“, beschreibt die Bensheimerin Simone Bayram den ersten Krampfanfall ihrer damals erst sieben Monate alten Tochter, der etwa 20 Minuten anhielt und erst vom Notarzt unterbrochen werden konnte. Noch heute, mehr als fünf Jahre später, steht der zweifachen Mutter der Schock ins Gesicht geschrieben: „Sara hat am ganzen Körper gezuckt. Sie ist blau angelaufen und war nicht ansprechbar.“ Bis zu diesem Vorfall war Saras Entwicklung unauffällig verlaufen.
Nur zehn Tage später krampfte der Säugling erneut und dieses Mal dauerte der nächtliche Anfall über eine Stunde. Die Hoffnung, die man den Eltern zunächst in der Darmstädter Kinderklinik gemacht hatte, dass es sich womöglich um einen einmaligen Fieberkrampf handeln könnte, schwand. Sara bekam Antiepileptika verabreicht. Ihr Gehirn hatte von den epileptischen Anfällen Schaden erlitten. Die Diagnose aber war nach wie vor ungewiss.
Erst kurz nach ihrem ersten Geburtstag und entsprechenden Tests im Epilepsiezentrum der Diakonie in Kehl-Kork stand aufgrund der Art der Anfälle bei Infekten, deren frühen Beginn im Säuglingsalter und entsprechenden Gen-Tests durch den Klinikleiter Dr. Thomas Bast fest, dass es sich um das Dravet-Syndrom, eine schwere frühkindliche Epilepsieform handelt. Die seltene genetisch bedingte Erkrankung schädigt das Gehirn und schränkt die Lebenserwartung der Patienten stark ein. Nur bei einem Kind von etwa 30 000 bis 40 000 Geburten wird das Dravet-Syndrom festgestellt.
Für Simone und Harun Bayram brach eine Welt zusammen. „Ich habe zwei Jahre gebraucht, bis ich die Nachricht verdaut habe, dass meine Tochter einen Gendefekt hat“, erinnert sich Saras Mutter. Viele Gedanken seien ihr durch den Kopf geschwirrt: Kann mein Kind jemals laufen und sprechen, wird es für immer beeinträchtigt sein und wie kann ich immer für es da sein?
Abschätzenden Blicke und Reaktionen in der Öffentlichkeit
Heute – mit knapp sechs Jahren – ist Sara auf dem geistigen Stand einer Zweieinhalbjährigen und motorisch eingeschränkt. Sie wird „immer kindlich und in ihrer Sprache reduziert“ bleiben. Dank professioneller Unterstützung durch die Frühförderstelle und dank Ergo-, Physiotherapie und Logopädie kann sie mittlerweile langsam laufen und sogar Treppen steigen: „Ich werde unsere Tochter nie so kennenlernen dürfen, wie sie eigentlich geworden wäre. Aber sie hat schon viele Fortschritte gemacht, und wir sind total zufrieden. Sara muss nichts, aber sie kann alles.“
Was die Bensheimer Familie zusätzlich bedrückt und mitnimmt – und was ein Grund dafür war, sich an die Zeitung zu wenden –, sind die abschätzenden Blicke vieler Menschen und deren Reaktionen in der Öffentlichkeit. Da man Sara die Krankheit zunächst nicht ansieht, werden die Eltern nach schlimmen Ausrastern und lauten Schreien ihres Kindes regelmäßig angestarrt, angesprochen, sogar von einer Anwohnerin mehrmals vom Spielplatz verjagt und von einer Supermarkt-Kassiererin gemaßregelt. Selbst die Mitarbeiterin in einer Arztpraxis habe entsprechend barsch reagiert. Man müsse sich immer rechtfertigen, auch dass Sara beim Spaziergang in ihrem Reha-Buggy sitzt. „Es ist keine mangelnde Erziehung, wenn meine Tochter schreit, um sich schlägt und aggressiv wird, und es ist auch keine Bösartigkeit. Es ist die Krankheit, die etwas mit ihr macht“, wünscht sich Simone Bayram zukünftig etwas mehr Verständnis und Rücksichtnahme – für alle Betroffenen: „Die Situation ist auch für Eltern nicht angenehm.“
Bei Saras älteren Bruder Sami hat die Krankheit seiner Schwester, die bei ihr oftmals zu Frustration und heftigen Wutausbrüchen sorgt, ebenfalls Spuren hinterlassen. „Er behandelt sie dennoch ganz normal und liebevoll. Er weiß, dass er achtsam sein muss und nicht raufen darf. Es bedurfte aber durchaus vieler Gespräche und Erklärungen. Er muss zwar auf Einiges verzichten, aber er soll sich nicht zurückgesetzt oder gar benachteiligt fühlen.“
Starke Krämpfe sind dank eines Medikamentes ausgeblieben
Simone Bayram berichtet weiter von schlaflosen Nächten der Familie, von einem anfangs nur eingeschränkten „normalen“ Leben, ständigen Krankenhausaufenthalten und einer wechselnden Medikation für Sara: „Wir sind mit den Kindern aus Angst, dass sich Sara einen Infekt einhandelt und es erneut zu schweren Anfällen kommt, in keinen Indoor-Spielplatz und auf kein Familienfest gegangen.“ Inzwischen gehe es ihr aber aufgrund eines neu auf dem Markt zugelassenen Medikamentes für das Dravet-Syndrom viel besser, die starken Krämpfe seien ausgeblieben. „Seit einem Jahr krampft Sara nicht mehr. Wir genießen heute die besonderen Momente als Familie, sind aber weiter sehr vorsichtig und halten Abstand. Eine Flasche Desinfektionsmittel haben wir immer griffbereit. Die Angst spielt immer eine Rolle.“
Obwohl das Ehepaar Bayram mittlerweile getrennt lebt, sind beide Elternteile immer für Sara und ihren Bruder da, unternehmen viel gemeinsam und feiern zusammen Weihnachten. „Sara ist ein Papa-Kind“, verrät Simone lächelnd. Die Fünfjährige geht stundenweise in den Waldorf-Kindergarten und wird ab dem Sommer die Seebergschule besuchen.
Nur Gutes weiß Simone Bayram über ihren verständnisvollen „loyalen“ Arbeitgeber GGEW zu berichten, der ihr flexible Arbeitszeiten bei einer Fünf-Stunden-Woche ermöglicht „und so ein Stück Druck wegnimmt“ sowie den Dravet-Syndrom Verein und dessen Schirmherrn Wigald Boning. Der bekannte Komiker, Musiker und Autor macht in der Öffentlichkeit nicht nur auf die seltene Krankheit aufmerksam, sondern sammelt auch fleißig Spenden. Alle zwei Jahre fahren die Vereinsmitglieder gemeinsam in den Serengeti-Park: „Ein tolles Erlebnis für Eltern und Kinder.“
Sara ist ein „aufgewecktes, fröhliches Kind, das viel tanzt, sich gern verkleidet und beim Festival Vogel der Nacht mitsingt“, beschreibt Simone Bayram ihre Tochter mit liebevollen Worten. Sie sei dankbar „für die vielen schönen Momente, die in Erinnerung bleiben wie der Besuch im Schwimmbad und im Freizeitpark.“ Aber die Angst sei stets gegenwärtig und mache traurig.
Das Dravet-Syndrom wurde nach der französischen Kinderpsychiaterin und Epileptologin Charlotte Dravet benannt, die 1978 das nach ihr benannte Syndrom erstmals unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten beschrieben hat. Dravet war Mitglied des Gremiums der französischen Stiftung für Epilepsie. Nach ihrem Ruhestand hat sie ihre Aktivitäten auf das Dravet-Syndrom konzentriert und bei der Weiterbildung vieler Ärzte aus der ganzen Welt geholfen.
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