Bensheim. Die Geschichte droht sich zu wiederholen: Vor kurzem hat der Windkraftanlagenhersteller Nordex seine Rotorblatt-Produktion am Standort Rostock geschlossen. Das Unternehmen will künftig in Asien produzieren. Der Ausbau der Windenergie ist in Deutschland 2020 teils dramatisch zurückgegangen. Die Genehmigungsdauer beträgt im Durchschnitt 60 Monate.
Viele sehen die Ursache in einer Regelung aus dem Jahr 2017, die besagt, dass der Bau von Anlagen bundesweit ausgeschrieben werden muss. Das habe zu einem anhaltenden Einbruch geführt. Denn in der Folge lieferten sich die Anbieter einen Preiskampf, bei dem insbesondere kleinere heimische Unternehmen aus dem Markt gedrängt wurden. Durch politische Entscheidungen wie diese gingen seither rund 60 000 Arbeitsplätze verloren. Zur geringen Ausbaudynamik kommen Kostensteigerungen bei Materialien und ein immenser Wettbewerbsdruck durch günstige Anbieter aus Asien.
Droht der Zusammenbruch?
Droht der Windkraft-Nische jetzt ein kompletter Zusammenbruch, wie es vor zehn Jahren bereits bei der deutschen Solarbranche der Fall war? Das stellte Peter Lotz bei der jüngsten Grünen Runde zur Diskussion, bei der am Montag in der Gaststätte Präsenzhof über 30 Gäste teilgenommen haben. Gast war der Windkrafttechnik-Pionier Franz Mitsch aus Heppenheim, dessen Firma ESM als Markt- und Innovationsführer bereits weit über 180 000 Windenergieanlagen mit relevanten Teilen ausgestattet hat – darunter Lager, Kupplungen, Dämpfer und spezielle, 15 Tonnen schwere Schwingungstilger.
Eigentlich sollte die Windenergie eine zentrale Rolle bei der Energiewende in Deutschland spielen, betonte Lotz. Für Mitsch ist das ebenfalls unstrittig: Die Windkraft sei ein wertvoller Standortfaktor und nicht etwas ein Standortkiller, so der Firmengründer und Geschäftsführer, der als gelernter Werkzeugmacher und Diplom-Ingenieur seit 1980 in verschiedenen Positionen der Schwingungstechnik tätig war und 1993 als Energieberater in die Selbstständigkeit wechselte. Bereits 1992 hat er sein erstes Windenergie-Projekt realisiert. 1996 gründet er ESM, die 2016 von Rimbach-Mitlechtern nach Heppenheim verlagert wird. 120 Mitarbeiter arbeiten dort im Dreischichtbetrieb.
Der Fokus liegt auf der Entwicklung neuartiger Methoden zur Schall- und Lastenreduzierung. Ein Jahr später kommt eine kleine Unternehmenstochter am Standort China hinzu.
„Der politisch forcierte Unterbietungswettbewerb hat zu einem Firmensterben geführt“, sagt Schwiegersohn Julian Saur, der 2012 zu ESM kam und seit 2016 als kaufmännischer Geschäftsführer im Boot ist. Dabei wären eigentlich mehr Produzenten nötig, um das Ziel der Bundesregierung umzusetzen: Zwei Prozent der gesamten Bundesfläche an Land sollen für Windräder ausgewiesen werden. Das ist mehr als eine Verdoppelung. Die Länder werden künftig gesetzlich verpflichtet, mehr Flächen bereitzustellen.
Dafür gelten vor Ort aber unterschiedliche Ziele, weil es unterschiedliche Voraussetzungen für den Ausbau der Windenergie gibt. Mit dem Ausbau des Ökostroms aus Wind und Sonne sollen die Klimaziele erreicht und die Abhängigkeit von fossilen Energien wie russischem Gas vermindert werden.
Um das zu erreichen, müsste man täglich sechs Windräder aufstellen, so Saur in Bensheim. Das erscheint unter den aktuellen politischen Vorzeichen mehr als illusorisch. Doch die Energiewende beginne nicht erst mit der Inbetriebnahme der Anlagen, sondern bereits bei der Materialbeschaffung und bei der Produktion der Komponenten. Der regionale Aspekt werde im Kontext der Debatte leider zu oft übersehen.
Franz Mitsch ist ein Überzeugungstäter, der nicht müde wird, die Vorteile der Windenergienutzung für den Standort zu betonen. Vor kurzem hat er auf der Grundlage der Energielandschaft an der Bergstraße grob überschlagen, wie man den Kreis auf 100 Prozent regenerative Energien umstellen könnte. Dafür seien neben einer flächendeckenden Photovoltaik auf rund 75 Prozent aller freien Dachflächen ganze 150 Windkraftanlagen mit modernen Turbinen à sechs Megawatt Leistung nötig. Das macht etwa sieben in jeder der 22 Kommunen.
Hessen hat aktuell 1,9 Prozent seiner Landesfläche als Vorranggebiet für Windenergie ausgewiesen. Damit soll der Ausbau von erneuerbaren Energien auf besonders geeigneten Flächen gebündelt werden. Bei jeder einzelnen Anlage muss aber trotzdem geprüft werden, ob sie nicht zu dicht an einer Ortschaft liegt und ob Bestimmungen des Naturschutzes eingehalten werden.
Viele Hürden, so Mitsch, der die Bürokratie als Bremsklotz auf einem eigentlich vernünftigen Kurs wahrnimmt. Hinzu kommt, dass Windparks im Kreis Bergstraße heftig umstritten sind. Starken Widerstand gibt es sowohl auf politischer Ebene als auch bei den Menschen, die nahe an einem potenziellen Standort leben.
Franz Mitsch, der bei der Veranstaltung auch die verschiedenen technischen Varianten genau erläutert hat, hält das meiste für übertrieben: Es würden nahe Windkraftanlagen nicht mehr Vögel durch die Rotoren getötet wie anderswo durch andere von Menschen gemachten Störungen, etwa Verkehr, Hochspannungsleitungen oder die Scheiben von Wohnhäusern.
Auch die oft zitierte Studie über hohe Infraschallwerte (also nicht hörbare Frequenzen unter 20 Hertz) von Windanlagen sei nachweislich falsch. Ein Rechenfehler, der den Ausbau der Windkraftenergie eine Menge Zeit gekostet habe. Gesundheitliche Beschwerden durch Propeller in der Nähe seien demnach nicht zu erwarten. Und durch immer höhere Anlagen von 170 Metern und mehr würden letztlich auch die Vögel geschont, die in der Regel tiefer ihre Bahnen ziehen.
Auch die festgelegten Mindestabstände zur Wohnbebauung von bis zu 1000 Metern seien im Vergleich zu anderen Bauten nicht nachvollziehbar, kritisiert der Unternehmer: So durften Atomkraftwerke, Mülldeponien und der Tagebau erheblich näher an Siedlungen heranrücken. Für Mitsch eine Farce. „Mann muss alle Register ziehen, um ein Windkraftprojekt realisieren zu können“, so der Insider.
Daran werde sich so bald wohl auch nichts ändern. Dabei sei gerade diese Technik im Vergleich zu anderen Energieträgern enorm günstig. Neben einem geringen Flächenverbrauch (auch im Vergleich zu Photovoltaik) seien die Anlagen schnell installiert und problemlos abbau- und recycelbar. Um die Energieausbeute vor Ort massiv zu steigern, könne man bestehende Anlagen durch modernere ersetzen.
ESM betreibt auf der Neutscher Höhe eine inzwischen knapp 30 Jahre alte Anlage, über die nach einem technischen Update leicht das Zehnfache an Energie gewonnen werden könnte.
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