Sankt Georg

Die Zerstörung der Synagogen

Fritz Kilthau referierte bei den Senioren über die Reichspogromnacht an der Bergstraße

Von 
red
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Gedenktafel an der ehemaligen Synagoge in der Bachgasse. © oh

Bensheim. „Aus dem Erdgeschoss drangen Geräusche von zersplitterndem Glas und Geschirr, von umstürzenden Möbeln. Seine Mutter drückte ihn fest an sich und hastete die Treppen hinunter, durch das Geschäft hinaus auf die Straße.

Aus der Synagoge auf der anderen Straßenseite schlugen Flammen. Vater und Opa standen dort, erstarrt im Feuerschein des Infernos. Der kleine Junge blickte hinüber zur Schule (Synagoge) und dann instinktiv in Opas Gesicht, und er erkannte, dass etwas Schreckliches geschehen war, dass alles anders, unwiderruflich anders geworden war.“

So wie dieser Junge – es war der siebenjährige Kurt Abraham aus Lorsch – mussten die Juden in ganz Deutschland traumatisch erleben, wie ihre Synagogen angezündet, verwüstet und geschändet wurden.

Fritz Kilthau, promovierter Chemieingenieur, Vorsitzender des Vereins „Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge“ und Autor zahlreicher Publikationen zur NS-Zeit war zu Gast bei den Seniorinnen und Senioren der Stadtkirchengemeinde Sankt Georg mit seinem Vortrag zum Thema: „Als die Synagogen brannten“– die Reichspogromnacht an der Bergstraße in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938.

Kilthau schilderte die zeithistorischen Hintergründe, die von den Nazis als Vorwand für die systematische Verfolgungs- und Zerstörungsmaschinerie ausgenutzt wurden: das Attentat von Herschel Grünspan auf den Diplomaten Hans vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris. Die Verzweiflungstat eines Einzelnen wurde mit einer kollektiven Vergeltungsorgie beantwortet, die das finale Kapitel der deutschen Judenverfolgung eingeleitet hat.

Die Synagogen in Bensheim, Heppenheim, Lampertheim, Lorsch und Viernheim wurden durch Brand zerstört, und die jüdischen Gotteshäuser in Biblis, Neckarsteinach, Rimbach und Zwingenberg wurden verwüstet und beschädigt. Die Synagogen in Auerbach, Birkenau, Bürstadt, Groß-Rohrheim, Hirschhorn und Reichenbach waren bereits vor der Pogromnacht verkauft worden und entgingen somit dem Angriff der nationalsozialistischen Horden.

In diesen Tagen wurden über 400 Menschen ermordet oder in den Selbstmord getrieben. Etwa 30000 Juden wurden in den Konzentrationslagern Buchenwald und Dachau inhaftiert. Das alles waren keine spontanen Aktionen der Bevölkerung, sondern waren exakt von der SA und SS geplant und organisiert.

Aber wie verhielt sich die Bevölkerung? „Es gab viele Augenzeugenberichte – wie der von Kurt Abraham – und Fotos, die beweisen, dass viele Menschen die planmäßige Zerstörung der Synagogen und die Verfolgung ihrer jüdischen Mitbürger hautnah miterlebt haben und nur wenige sich empörten“, führte Kilthau aus. Kilthau ging in seinem Vortrag auch auf die wirtschaftlichen Aspekte ein, die oftmals unterschätzt oder völlig ausgeblendet werden. Die Vermögenserfassung der Juden vom April 1938 erlaubte die Erpressung von mehr als einer Milliarde Reichsmark nach der Reichspogromnacht als sogenannte „Sühneleistung.“ Die Emigration der Juden wurde mit der extrem hohen sogenannten „Reichsfluchtsteuer“ für das jüdische Vermögen und einer Abgabe für transferiertes Geld belastet und unmöglich gemacht.

In der sich anschließenden Diskussions- und Fragerunde, wurden viele Fragen gestellt: Woher kommt der Antisemitismus? Was begründete den jahrhundertealten christlichen Antijudaismus? Warum kommt es nicht zu einer Zwei-Staaten-Lösung?

Die Senioren waren tief beeindruckt und betroffen von diesem Vortrag, der mit vielen Aufnahmen und Augenzeugenberichten unterlegt war und dankten Fritz Kilthau mit viel Beifall für diese Geschichtsstunde der besonderen Art. red

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