Bensheim. „In Wahrheit tanzen nicht die Füße, sondern die Herzen“, mit diesem von Tänzern gern zitierten Spruch würde sie die inzwischen 75-jährige Geschichte der Ballettschule überschreiben, so die Inhaberin des Ballettstudios Leonor Anne Jagoda.
Eine Geschichte, die von einer großen Kontinuität geprägt ist, weil die Schülerinnen dem Studio über viele Jahre treu bleiben, auch als Erwachsene noch weitertrainieren und mitunter selbst zur Ballettlehrerin werden – alle derzeit tätigen Trainerinnen haben selbst einst hier angefangen. „So wird die Seele der Schule weitergetragen“, sagt Anne Jagoda. „Wir sind eine Ballettfamilie. Bei den Aufführungen zum Beispiel kümmern sich die Älteren um die kleineren Kinder, schminken sie und sorgen dafür, dass das Kostüm richtig sitzt.“
Hunderte von Ballettschülerinnen wurden im Lauf der Zeit hier ausgebildet, doch auch in das Kulturleben Bensheims ist das Ballettstudio Leonor seit Jahrzehnten mit begeisternden und regelmäßig ausverkauften Aufführungen fest eingeschrieben. Hinzu kommt die jahrelange Teilnahme an den Bensheimer Musiktagen, entweder mit eigenem Programm oder in Zusammenarbeit mit Opernhäusern, dem Collegium Musicum und vielen anderen. Immer wieder gab es auch Auftritte mit Bensheimer Gesangsvereinen, Auftritte bei Feierlichkeiten mit Bensheimer Partnerstädten oder Altennachmittagen, beim Hessentag oder im Pipapo-Kellertheater für Kindervorstellungen. Nicht zu vergessen die regelmäßige Teilnahme am Festzug beim Winzerfest.
Dabei wurde die Tanzschule vor 75 Jahren zunächst in Heppenheim gegründet, wo sie die ersten Aufführungen in den Räumen des Saalbaus an der Wilhelmstraße zeigte – das heutige Kino war damals noch vor allem eine Stätte für Theater und Tanz. Fotos dieser Aufführungen hängen noch in den heutigen Räumen der Ballettschule.
„Im Dezember 1948 rief ich die ersten Kinder zusammen und am 15. Januar 1949 habe ich mit fünf Schülerinnen im eiskalten Kurfürstensaal in Heppenheim den Unterricht angefangen“, erinnerte sich die Gründerin Sieglinde Leonor später. Sie hatte Schauspiel und Tanz studiert und war nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Osten Deutschlands an die Bergstraße gekommen. 1951 bezog sie mit ihrer Ballettschule eigene Räume in der Bensheimer Bahnhofstraße. Ende der 1960er Jahre schließlich etablierte sich das Studio an der Heidelberger Straße.
Drückende Spitzenschuhe
Auch wenn ihr Geist im Studio bis heute weiterlebt, hat sich manches verändert. Zu ihrer Zeit etwa hätte niemand gewagt, sich während des Trainings über drückende Spitzenschuhe zu beklagen, erinnert sich Anne Jagoda: „Man trainierte weiter, bis es blutete.“ Auch hätten damals zum Beispiel kleinere Kinder bei den Aufführungen noch nicht auf die Bühne gedurft – heute dürfen ausnahmslos alle mitmachen.
Sieglinde Leonor leitete das Studio, bis sie 1998 im Alter von 82 Jahren starb. Als Inhaberin folgte ihr Anne Jagoda, die selbst mit drei Jahren ihre ersten Tanzschritte im Ballettstudio Leonor versucht hatte und 16 Jahre lang dort Schülerin war. Dann ließ sie sich selbst zur Ballettlehrerin ausbilden und arbeitete in dieser Funktion seit 1987 im Studio. 1998 zog das Studio unter ihrer Leitung in die Rodensteinstraße 90 und von dort zehn Jahre später in die großen Räume hinter das Medienhaus des Bergsträßer Anzeigers in der Rodensteinstraße 6, wo sich das Studio noch heute befindet.
Was mit fünf Kindern anfing, ist inzwischen zu einer Schule mit rund 200 Schülerinnen im Alter von vier bis 65 Jahren angewachsen, die von derzeit sieben Lehrerinnen in rund 30 Klassen unterrichtet werden – überwiegend im klassischen Ballett, jedoch auch im Jazz-Tanz und im Modern Dance. Noch stärker als in früheren Jahrzehnten ist Ballett heute eine überwiegend weibliche Angelegenheit. Jungs kommen nur vereinzelt und lassen sich mit der Pubertät meistens von ihren Geschlechtsgenossen entmutigen weiterzumachen, erzählt Anne Jagoda. Die Mädchen tanzten am liebsten weibliche Rollen, am besten noch mit großen Tüllröcken – „das hat mit mangelnder Emanzipation nichts zu tun, sondern gehört zur Kunstform des klassischen Balletts“.
Die Liebe zum Tanz habe viel mit den sowohl künstlerischen als auch sportlichen Anreizen zu tun, die das Ballett biete wie keine zweite Disziplin, meint Anne Jagoda. Eine wichtige Rolle spielen daher auch die regelmäßigen Aufführungen. Sie finden im Abstand von anderthalb Jahren statt, damit neben den aufwendigen Probenarbeiten auch die Entwicklung der individuellen Technik weiter zu ihrem Recht kommt.
Von Peter Pan bis Nussknacker
Turnusmäßig wechseln sich jeweils eine Märchenaufführung und eine Galavorstellung ab. Bei den bunt zusammengestellten Galas mit jeweils etwa 20 unterschiedlichen Tänzen können die Klassen einzeln ihre Auftritte üben. Anders bei den drei Märchenvorstellungen im Programm. Die Inszenierungen von „Peter Pan“, „Dornröschen“ und dem „Nussknacker“ erfordern während der drei bis vier Monate dauernden Probenphase große Einsatzbereitschaft von Lehrerinnen und Elevinnen. Durch den Wechsel der Aufführungen kommt es genau alle zehn Jahre zur Wiederholung eines Märchenstücks. So können diejenigen, die in einem Stück erst noch in einer Gruppe der Kleinen mitgemacht haben, beim nächsten Mal eine der anspruchsvolleren Rollen übernehmen.
Requisiten und Kulissen werden sorgfältig aufbewahrt. Alle Bühnenbilder sind handgemalt, die Vorhänge selbst genäht. „Ich möchte eine wirklich märchenhafte Atmosphäre erzeugen, nichts, das wirkt wie von der Stange“, sagt Anne Jagoda, „die Aufführungen sollen das Publikum verzaubern“. Nach „Dornröschen“, dem Publikumserfolg des Jahres 2023, steht im Sommer 2025 wieder eine Tanz-Gala an.
Im Jubiläumsjahr selbst gibt es keine öffentliche Vorführung. Gefeiert wird aber, unter anderem mit einer Jubiläums-Verlosung. Hauptgewinn: ein Jahr kostenloser Ballett-Unterricht. Anfang Juni haben die Schülerinnen gegenseitig, aber auch Eltern und Freundinnen, Gelegenheit, beim Unterricht der einzelnen Klassen zuzuschauen. Im Herbst werden verschiedene Workshops stattfinden. Außerdem wird in diesem Jahr eine besonders große Gruppe beim Winzerfestumzug mitlaufen.
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