Auerbach. Statt Fragen und Kommentaren ein anhaltendes, tiefes Schweigen – der Vortrag zur Dokumentation „Die Deportation der Juden aus Hessen 1940 bis 1945“ am Mittwochabend ließ das Publikum in der ehemaligen Auerbacher Synagoge in großer Betroffenheit zurück. Der ehemalige Leiter des Hessischen Hauptstaatsarchivs Volker Eichler hatte die umfangreiche Dokumentation vorgestellt und aus den Erinnerungen der Überlebenden zitiert, Hartmut und Christiane Heinemann lasen Auszüge aus Briefen und Postkarten der Opfer.
Tiefe Verzweiflung der Verfolgten
Der unentrinnbare Hass, die allgegenwärtige Grausamkeit und die tiefe Verzweiflung der Verfolgten wurden auf diese Weise unmittelbar spürbar, auch wenn die Formulierungen in den Dokumenten überwiegend verharmlosend gewählt waren – einerseits wegen drohender Zensur, andererseits aber offensichtlich auch, um die Gefühle der Angehörigen zu schonen. Die Briefe lassen das Geschehen deutlich werden: die Verschleppung aus den Wohnungen, die Zugfahrt zu Tausenden ins Ungewisse, schließlich Leid und Tod in den Lagern und Ghettos. Erkennbar ist das immergleiche Muster: Entweder standen die Verschlepper morgens um 7 Uhr plötzlich vor der Tür, oder es gab schriftliche Befehle zur „Abwanderung“ ganz kurz vor dem Termin.
Thematisiert wurde in den vorgelesenen Dokumenten das Zehren von den Erinnerungen, aber auch die bange Frage „Ob man noch mal seine Menschen wiedersieht?“. Für viele wurde der Suizid zum einzigen Ausweg – allein in Frankfurt gab es etwa 900 solcher Selbsttötungen. Vor allem alte Menschen sahen für sich keine Hoffnung mehr, sie hatten Angst vor jedem kommenden Tag – „lieber freiwillig tot, als von den Nazi-Schergen hinausgejagt“, beschrieb es einer der Verfolgten. „Alte Leute wurden aufgeladen wie Kartoffeln“, erinnerte sich ein Zeitzeuge. Berichtet wurde auch von den ungerührten Begehrlichkeiten der Nachbarn bezüglich des freigewordenen Wohnraums und des zurückgelassenen Inventars. Mit kaum erträglichem Zynismus verklärte die NS-Propaganda das Ghettolager Theresienstadt als „Altersghetto“. Nicht alle Opfer durchschauten auch die Taktik, mit der die Mörder sie in neue, behaglich aussehende Reisebusse einsteigen ließen – oder, wie in Minsk, in sogenannte Gaswagen, LKW mit einem luftdichten Kastenaufbau, in den die Abgase geleitet wurden. Die letzte Deportation aus Frankfurt fand am 15. März 1945 statt, schloss Eichler die Buchvorstellung und Lesung. Zu diesem Zeitpunkt lebten von einst mehr als 40 000 Juden noch 106 in der Stadt.
Jahrelange Forschung
Die Dokumentation ist das Werk der 2017 verstorbenen Pädagogin und Publizistin Monica Kingreen. Sie hatte jahrelang zu den Deportationen von Juden und Jüdinnen in Hessen geforscht, Überlebende und Nachkommen aufgespürt und so eine umfassende Sammlung zusammengetragen. Durch ihren Tod blieb ihr Manuskript unvollendet. Volker Eichler übernahm im Namen der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen die abschließende Bearbeitung und Herausgabe des Materials, das 2023 als Buch erschien. Bei der Vorstellung würdigte er ausführlich das Lebenswerk von Monica Klingreen, die schon als Kind tief beeindruckt von einem Besuch in Buchenwald war und zur Expertin für das Thema Deportation wurde.
Die Untersuchungen zu diesem Thema begannen allgemein erst in den Jahren 2004 bis 2010 – als Gründe nannte Eichler, dass die Archive erst dann die entsprechenden Dokumente zur Verfügung stellen konnten und die Möglichkeiten, die das Internet erst dann eröffnete. In diesem Zusammenhang verwies der Referent unter anderem auf die Webseite der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem, wo die Recherche der Namen und biografischen Daten von rund 4,8 ermordeten Menschen heute für jedermann möglich ist.
Erstmals Gesamtdarstellung
Zwar lagen schon länger zahlreiche regionale Veröffentlichungen zur Deportation vor, doch bietet die nun erschienene Dokumentation erstmals eine Gesamtdarstellung zur Deportation und Ermordung der Juden für das Land Hessen in den Grenzen vor 1945, es umfasst also die preußische Provinz Hessen-Nassau und das frühere Großherzogtum Hessen-Darmstadt mit den Provinzen Oberhessen, Rheinhessen und Starkenburg.
288 Fotografien veröffentlicht
Genau dokumentiert sind unter anderem die Verschleppungen aus den Städten und Dörfern hin zu den Deportationsorten wie etwa der Großmarkthalle Frankfurt. Zeitlich setzt die Darstellung schon vor Beginn der Massendeportationen ein, indem es auch die Deportationen zu den Mordstätten der „Euthanasie“ umfasst.
Das Buch versteht sich nicht als Werk für Spezialisten, sondern es wendet sich an einen breiten Leserkreis. Ein besonderes Verdienst ist die Veröffentlichung von 288 Fotografien, die den Deportierten ein Gesicht geben und ihr Leben und Schicksal erläutern. Doch gibt es auch Bilder von den Deportationsvorgängen selbst, die von den Tätern angefertigt wurden. Aus Hessen sind bislang 65 solcher Bildzeugnisse bekannt, die in der Dokumentation vollständig veröffentlicht werden.
Zu dem Abend eingeladen hatte der Auerbacher Synagogenverein zusammen mit der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, die ehemalige Synagoge an der Bachgasse war im Erdgeschoss wie auf der Empore bis auf den letzten Platz gefüllt. Die erste Vorsitzende des Synagogenvereins Ursula Schlosser dankte den Vortragenden für einen Abend von bedrückender Aktualität.
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