Bensheim. Es liegt eine stille, düstere Poesie über einem Thema, das weder lyrisch noch leise ist. Mit einem extrem wandelbaren, intensiven Spiel und einer flüssigen Inszenierung jenseits rhythmischer oder inhaltlicher Taktlosigkeiten hat das Staatsschauspiel Dresden am Montag das Bensheimer Theaterfestival bereichert.
Die Bühnenadaption des Romans „Der Nazi und der Friseur“ ist eine beklemmende Groteske über den Holocaust am Beispiel eines Massenmörders, der die Identität seines jüdischen Jugendfreunds stiehlt und in Israel unbehelligt leben kann. Bis zu dem Tag, als ihn seine Vergangenheit überholt.
Schülertexte online Begleitet wird die Woche junger ...
Am Ende richtet sich der Mörder in der Opferrolle selbst. Ein Spiel im Spiel, bei dem der Nazi auf absurde Weise seine Schuld bekennt und es nicht mehr schafft, sich als untergeordneter Dienstherr eines Todeslagers aus seiner Verantwortung zu monologisieren.
Die Schauspieler Franziskus Claus und Daniel Séjourné, 27 und 30 Jahre alt, brillieren als clownesk agierendes Duo in einer burlesken Tragödie, die bei aller Schwere und Dunkelheit eine faszinierende Komik und Leichtigkeit offenbart. Auch als Video-Stream vermag das Stück unter der Regie von Monique Hamelmann den Zuschauer lückenlos zu fesseln.
Ein sehr gelungenes Debüt, das Hamelmann mit der Dramaturgin Janny Fuchs in Dresden kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie erstmals vor Publikum gezeigt hat.
Ein starkes Stück Theater
Am Montag war der Beitrag im Rahmen der Woche junger Schauspieler zu sehen. Auch durch die gerade im ersten Drittel häufig eingespielten filmischen Sequenzen in bildstarker Stummfilm-Ästhetik ist die Inszenierung auch in diesem atmosphärisch etwas abstinenten Format ein starkes Stück deutsches Theater, das bis zur letzten Minute eine kluge, fast chronologisch gebaute Dramaturgie und zwei glänzende schauspielerische Leistungen zusammenbringt.
Es ist die konsequente Ernsthaftigkeit und fokussierte Klarheit, mit der die beiden Spieler diesen herausfordernden Stoff nach dem Roman von Edgar Hilsenrath auf die Bühne bringen. Daniel Séjourné als SS-Mann Max Schulz, der sich als sein Itzig Finkelstein ausgibt, den er selbst im KZ ermordet hat, um nicht als „Judenfreund“ an die Front zu müssen. Und Franziskus Claus in allen anderen Rollen, die er als perfekter Sparringspartner flüssig und perfekt und mit einer ungeheuren Wandelbarkeit beinahe aus dem Ärmel schüttelt.
Inspiriert zu dem Stoff wurde der 2018 verstorbene Hilsenrath – ein Holocaust-Überlebender – Anfang der 70er Jahre durch eine Zeitungsmeldung über ein ehemaliges Gestapo-Mitglied, der sich nach dem Krieg als Jude ausgegeben haben und kurz vor seiner Enttarnung sogar zum Repräsentanten einer Vereinigung von Verfolgten des Naziregimes gewählt worden sein soll.
Seine eigene, fiktive Hauptfigur ist ein Überlebensmonster: Mit dem Kollaps der Diktatur bricht auch Schulzens Aufstieg in sich zusammen. Seine Chance: Durch Itzig Finkelstein und seinen Vater, den Inhaber eines Frisiersalons, bei dem Max in der Lehre gewesen war, hatte er einst jüdische Sitten und Gebräuche sowie hebräische Grundlagen erlernt, deren Kenntnis ihm später einen Ausweg aus der prekären Situation nach der bedingungslosen Kapitulation ermöglicht.
Ihm gelingt die Flucht vor der Gerechtigkeit. Im Exil eröffnet er seinen Salon („Der Herr von Welt“) und etabliert sich als wesenloses Monstrum hinter der Fassade des gemeuchelten Freundes.
Gespür für starke Bilder
Das Theaterstück ist ebenso nüchtern und präzise wie das Buch. Dabei zeigt Monique Hamelmann viel Gespür für starke Bilder und symbolisch aufgeladene Motive. In der ersten Szene erlebt man, wie erhitzter Mais aus einer Popcornmaschine heraus explodiert und einen Esstisch überflutet. Später verweisen die kleinen Klümpchen auf die herausgerissenen Goldzähne der Opfer, mit denen sich der Nazi die Überfahrt finanziert.
Auf der Suche nach der verlorenen Schuld hält man ihn über 20 Jahre nach Kriegsende für übergeschnappt. Sein Versuch eines Geständnisses wird als Spätfolge eines KZ-Häftlings abgetan. Max Schulz bleibt mit seiner Vergangenheit allein, denn wo es kein Urteil gibt, kann es auch keine Erlösung geben.
Als Gefangener und Sklave eines falschen Lebens läuft Daniel Séjourné zur Hochform auf. Er zeigt eine Figur, die von der braunen Ideologie verstrahlt ist und auf perfideste Weise Theater spielt. Famos die finale Szene, in der er sich selbst in den Zeugenstand ruft und seine wahre Identität in einer gespielten Gerichtsverhandlung offenbart. Am Ende muss er erkennen, dass es für seine Taten keine irdische, sondern allein eine göttliche Strafe geben kann. Die Leben, die er genommen hat, sind ein für alle Mal verloren.
Der schizophrenen Transformation des einen steht der dramaturgisch motivierte Rollentausch des anderen gegenüber. Franziskus Claus spielt die ahnungslose Ehefrau Mira, die seit dem Hunger im KZ nur noch frisst, den jungen Finkelstein, einen Nazi, einen ehemaligen Amtsrichter und die Figur des Rosenfeld, die den vermeintlichen Juden zur Ausreise überredet.
Kostüme und Bühnenbild stammen von Nadja Hensel. Wenige Requisiten lassen dem kongenial aufspielenden und gespenstisch geschminkten Duo viel Raum für ihr betont körperliches Spiel, für dialogische Kollisionen und eindringliche Monologe. Zarte Momente und radikale Ausbrüche wechseln sich ab.
Im letzten Drittel wird das Stück ruhiger, situativer und konzentrierter. Rührselig oder moralisierend wird es nie. Die Schauspieler wahren stets die Distanz zu ihren Rollen, tiefergehende Innenansichten und psychologische Studien bleiben aus.
Kein Makel, sondern eine der vielen Stärken dieser kontrastreichen wie homogenen Dresdner Produktion.
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