Bensheim. „Was bleibt einem schon übrig, als seine Identität so mühelos abzustreifen wie eine SS-Uniform?!“ Passend zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZs Auschwitz hat ein junges Team des Staatsschauspiels Dresden unter der Regie von Monique Hamelmann und Dramaturgin Janny Fuchs im Februar 2020 „Der Nazi & der Friseur“ uraufgeführt.
Das Stück ist eine Bühnenadaption des gleichnamigen Romans von Edgar Hilsenrath, einem jüdischen Holocaust-Überlebenden. Im Rahmen der Woche junger Schauspieler konnte man am Montagabend im Stream die Aufzeichnung einer überarbeiteten Version erleben, die die klassischen Bühnenszenen durch Videoeinspieler und filmische Mittel bereicherte.
„Der Nazi & der Friseur“ erzählt die Lebensgeschichte des KZ-Wächters Max Schulz, der zur Rettung des eigenen Lebens am Ende des Krieges die Identität seines von ihm ermordeten jüdischen Jugendfreundes Itzig Finkelstein annimmt. Als „Startkapital“ für sein „neues Leben“ dient ihm eine Kiste voller Goldzähne - in der Inszenierung symbolisiert durch allgegenwärtiges Popcorn. Die verschiedenen Stationen seines Lebens werden hier in nicht streng chronologischer Reihenfolge dargestellt.
Max (alias Itzig) entwickelt sich dabei vom durchtriebenen, letztendlich gescheiterten Schwarzmarkthändler in West-Berlin über einen zionistischen Widerstandskämpfer in Palästina zum angepassten Friseur und Ehemann im neu gegründeten Staat Israel. Die Handlung mündet in eine fingierte Gerichtsverhandlung: Kann es für einen Massenmörder eine Strafe geben, die die Opfer oder ihre Hinterbliebenen zufriedenstellt? Wie auch der Roman, aus dem einzelne Passagen in der Aufführung rezitiert werden, so spielt auch die Inszenierung mit überzogenen Klischees, Vorurteilen und teils grotesken Übertreibungen.
Trotz der offensichtlich absurden Handlung gelingt es Daniel Séjourné, Max Schulz charakterliche Tiefe und Authentizität zu verleihen. Unterstützt wird er dabei von Franziskus Claus, der in beeindruckender Variabilität in Haltung, Sprache und Dialekt mit großer Spielfreude alle anderen Rollen übernimmt. Sparsam, aber gezielt eingesetzte Requisiten und ein einfaches aber variables Bühnenbild unterstützen die beiden harmonisch miteinander agierenden Schauspieler. Die Lebendigkeit der Inszenierung wird zusätzlich unterstützt durch den Wechsel der gezeigten Bildausschnitte - von der klassischen Theaterzuschauerperspektive bis hin zu gezoomten Detailaufnahmen.
Die zusätzlichen Möglichkeiten, die ein „Theater-Stream“ bietet, werden somit als bereichernde Unterstützung genutzt. Dennoch vermissen sicherlich nicht nur die Akteure den unmittelbaren Kontakt mit dem Publikum. Auch als Zuschauer, der an diesem Abend zwischen Entsetzen über das Grauen des Berichteten und Lachen über teils komische Situationen schwankt, sehnt man sich nach einem „echten“ gemeinsamen Theatererlebnis.
Dem gesamten Team ist es mit „Der Nazi & der Friseur“ gelungen, die Thematik des Holocausts aus der Täterperspektive auf ungewöhnliche Weise lebendig und berührend zu beleuchten. Ein Theaterabend, der sicherlich bei vielen noch lange nachwirken wird!
Tilman Arndt, AKG Bensheim
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/bensheim_artikel,-bensheim-der-nazi-der-friseur-grotesk-aber-ruehrend-_arid,1810006.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/bensheim.html