Bensheim. Seit 150 Jahren wird in Bensheim vom „Euler“ gesprochen. Manche meinen heute damit nur das neue Wohngebiet südlich des Friedhofs, das in den letzten Jahren entstanden ist. Eine einzige hohe Mauer zeugt dort aber noch unübersehbar von der großen Papierfabrik, die weit über 100 Jahre lang die Bensheimer Industrielandschaft prägte. Während viele der in den Jahrzehnten um das Jahr 1900 einflussreichen Familien inzwischen in Vergessenheit geraten sind, ist der Name Euler in Bensheim nicht nur als Arbeitgeber mehrerer Generationen noch immer im Gedächtnis, er steht auch in Zusammenhang mit wichtigen städtebaulichen und gesellschaftlichen Entwicklungen.
Mehr als 300 Mitarbeiter
In ihren besten Zeiten beschäftigte die Papierfabrik als zeitweise größter Bensheimer Arbeitgeber weit mehr als 300 Mitarbeiter – und es gab wohl niemanden, der nicht jemanden kannte, der „beim Euler schafft“. Die Produktpalette umfasste viele Sorten Spezialkarton von Aktendeckeln bis zum Modellbaukarton, aber auch Papier für Parkhaustickets und Etiketten. Ein dem Verbraucher bekanntes Produkt dürfte in den 1980er Jahren die Raufasertapete „Eugrana“ gewesen sein, mit der das Firmensignet – eine stilisierte Eule – auch international verbreitet wurde. Die Tapete ist unter diesem Markennamen in manchen Ländern noch immer erhältlich.
Angefangen hatte alles schon im Jahr 1859. Damals beantragten zwei Professoren des Darmstädter Polytechnikums im noch völlig unbebauten Bensheimer Süden die Errichtung einer Strohpapierfabrik. Gutes Schreibpapier wurde damals aus zerkleinerten weißen Leinen-Lumpen hergestellt – bei stetig steigendem Papierbedarf ein mangelnder Rohstoff. Fieberhaft suchte man nach Ersatzstoffen dafür und verfiel unter anderem auf Stroh. In zeitgenössischen Beschreibungen wird es als hart und steif beschrieben, so dass es beim Falten leicht brach.
Das Stroh wurde gereinigt, in Stücke geschnitten und erst in Wasser oder Dampf, dann in Kalkmilch mit Zusatz von Pottasche gekocht. Die fertigen Bogen mussten dann noch unter anderem mit Chlor und Schwefelsäure behandelt werden. Schon in den Anfangsjahren gab es mehrere Besitzerwechsel in der Firma. Otto Heumann, der die Papierfabrik 1867 erworben hatte, starb 1871 unerwartet.
Der 1847 in Lorsch geborene Kaufmann Wilhelm Euler übernahm daraufhin – vor genau 150 Jahren – mit gerade einmal 24 Jahren zunächst als Angestellter die Leitung des Unternehmens mit 20 Arbeitern. Vier Jahre später erwarb Euler die Fabrik dann selbst: Ab September 1875 firmierte das Unternehmen offiziell als „W. Euler, Maschinenpapierfabrik zu Bensheim“.
Beginn einer Erfolgsgeschichte
Damit begann eine Erfolgsgeschichte, die nicht nur dem unternehmerischen Talent des Inhabers zu verdanken war, sondern auch technischer Innovation: Für die Papierherstellung wurde zunehmend Zellstoff verwendet, der in einem gerade erst entdeckten Verfahren aus Holz gewonnen werden konnte. Die Rohstoffprobleme in der Papierproduktion hatten damit eine Lösung gefunden. Vielen Bensheimern wird noch der große Holzplatz neben der Hahnmühle im Gedächtnis sein, der heute von einem kleinen Wohngebiet eingenommen wird.
Wilhelm Euler baute seine Produktionsanlagen stetig aus. Als Architekten für neue Firmengebäude, für Wohnhäuser für sich und seine Mitarbeiter beschäftigte er vor allem Heinrich Metzendorf, der als „Architekt der Bergstraße“ mit den von ihm entwickelten Villengebieten berühmt werden sollte. Innovativ waren die von ihm und seinem Bruder Georg zwischen 1902 und 1906 für Euler konzipierten Werkmeisterhäuser. Die einst denkmalgeschützten Büro- und Fabrikationsgebäude der Firma Euler wurden inzwischen abgerissen, die Werkmeisterhäuser werden zum Teil saniert.
Doch nicht nur als Förderer einer zeitgemäßen Architektur bleibt Wilhelm Euler im Gedächtnis der Stadt. Er war an zahlreichen Gründungen und Initiativen beteiligt. Er war Mitbegründer des Odenwaldclubs – in diesem Zusammenhang geht auch der Bau des Bismarckturms auf dem Hemsberg (geplant von Heinrich Metzendorf) auf seine Aktivitäten zurück. 1891 betrieb er die Gründung des örtlichen Obst- und Gartenbauvereins. Er war Mitglied des Bensheimer Stadtparlaments und Landtagsabgeordneter der Nationalliberalen Partei.
1896 wurde Wilhelm Euler Bensheimer Ehrenbürger, 1899 ernannte ihn der Hessische Großherzog Ernst-Ludwig zum Kommerzienrat. Keinen Erfolg hatte jedoch sein Bemühen um eine Bahnlinie von Bensheim nach Lindenfels. Eine der diskutierten Trassenverläufe hätte über das Zeller Tal und damit direkt am Firmengelände vorbei geführt.
Schon 1907 hatte Wilhelm Eulers Sohn Willie die Geschäftsleitung übernommen. Ab 1912 war dieser offizieller Besitzer und musste die Firma durch die schwierige Zeit der Wirtschaftskrise der 1920er Jahre führen, die mit großen finanziellen Verlusten verbunden war. 1922 wurde die Firma in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, an der die ebenfalls frisch gegründete Papierfabrik August Koehler AG in Oberkirch (Baden) Anteile erwarb. Im Gegenzug erwarb auch Euler Anteile an der Koehler AG.
1929 übergab Willie Euler die Geschäftsführung an seinen 1905 geborenen Sohn Will Euler, der die Firma bis zu seinem Tod 1971 führte. Firmengründer Wilhelm Euler starb 1934. Über die Geschichte der Firma während der Zeit des Nationalsozialismus und in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist bislang fast gar nichts öffentlich bekannt.
Das Jubiläum am 19. Mai 1971, genau 100 Jahre nach dem Eintreten von Wilhelm Euler in die Papierfabrik Heumann, wurde wegen des plötzlichen Todes von Will Euler im Februar des Jahres nur in kleinem Rahmen gefeiert. „Es gab eine Feierstunde in der Versandhalle und alle Mitarbeiter bekamen ein Geldpräsent. Obwohl ich damals gerade meinen Militärdienst bei der Bundeswehr leistete, bekam auch ich diese Geldgabe“, erinnert sich der Gronauer Norbert Hebenstreit, der seit Dezember 1966 bei Euler angestellt war.
Fabrikhallen abgerissen
Nach 1971 wurde die Papierfabrik – 1976 in eine GmbH umgewandelt – von mehreren Geschäftsführern jeweils nur über wenige Jahre geleitet. 1998 erwarb die Papierfabrik August Koehler die Mehrheit an der Papierfabrik Euler und gründete die Euler Greiz GmbH & Co. KG. Im Januar 2007 wurde der Betrieb mit damals noch 115 Mitarbeitern eingestellt. Die Fabrikhallen auf dem 4500 Quadratmeter großen Gelände wurden 2010, bis auf die letzte, denkmalgeschützte Ziegelwand mit dem Namenszug, vollständig abgerissen.
Norbert Hebenstreit hatte bei der Betriebsschließung gerade erst seine 40-jährige Betriebszugehörigkeit, zuletzt als Produktionsplaner und stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, gefeiert. Es war das letzte Arbeitsjubiläum in der Firma. Den Kontakt erhalten vor allem die älteren Kollegen mit dem „Euler-Treff“ aufrecht. 2011 traf man sich erstmals aus eigener Initiative, um Erinnerungen auszutauschen.
Covid-19 verlangte die Absage des schon geplanten 18. Termins in einer Gastwirtschaft im April 2020, doch hofft Norbert Hebenstreit, den Rhythmus von zwei Treffen pro Jahr bald wieder aufnehmen zu können. Es sind immer um die 20 Personen dabei, erklärt Hebenstreit, doch gebe es naturgemäß inzwischen schon einige Verstorbene und auch ehemalige Kollegen, die nicht mehr mobil genug sind, um zu den Treffen zu kommen.
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