Franziskushaus

Die Vergangenheit in der DDR nicht verklären

Autorin Ines Geipel stellte ihr neues Buch „Fabelland“ vor. Darin sucht sie 35 Jahre nach der Wiedervereinigung nach den Gründen für die Gräben zwischen Ost und West.

Von 
Marvin Zubrod
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Im Café Klostergarten stellte Autorin Ines Geipel ihr Buch „Fabelland“ vor. Anschließend wurde über die Deutsche Wiedervereinigung diskutiert. © Thomas Zelinger

Bensheim. Es ist ein milder Donnerstag im Herbst. Ines Geipel läuft die Treppe eines Darmstädter Weinkellers hinunter, wischt in der Weinstube die Tische ab, schneidet die Baguettes und verteilt sie in Brotkörbe. Dann zupft sie die Blumen an den Tischen und läuft um 19 Uhr die Treppe wieder hoch, um die Weinstube zu öffnen. Nichts ahnend, dass sie gerade alles angerichtet hat für eine der größten Feierlichkeiten der vergangenen Jahrzehnte. Die Rede ist vom Abend des 9. November 1989, dem Tag, an dem die Mauer fiel. Etwas mehr als zwei Monate zuvor war Geipel aus der DDR geflohen, um im Westen ein neues Leben zu beginnen. Ihr Vater war Stasi-Mitarbeiter und reiste zwölf Jahre lang unter acht Identitäten in den Westen, ohne dass sie davon wusste. Geipel selbst hat sich bereits mit ihrem Karriereende als 100-Meter-Sprinterin Mitte der Achtzigerjahre schrittweise vom DDR-Regime entfernt.

Ihre persönlichen Erfahrungen und wissenschaftliche Expertise hat die damalige Studentin und heutige Professorin für Verskunst nun in ihrem Buch „Fabelland“ einfließen lassen, das für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert ist. Dort geht sie auf rund 300 Seiten der Frage nach, wieso Deutschland 35 Jahre nach der Wiedervereinigung bisweilen immer noch ein zerstrittenes Land ist und welchen Anteil die unterschiedlichen Erzählungen in Ost und West daran haben.

Einen Einblick in Geipels Analysen bekamen die Zuschauer am Dienstagabend im Café Klostergarten im Franziskushaus in Bensheim. Veranstalter Jörg Fischer vom Verein „Fabian Salars Erbe“ und der Initiative „Vielfalt jetzt“ bezeichnete das Buch als „differenzierten und versöhnlichen Blick“ auf die Wiedervereinigung. Trotzdem sollten im Laufe des zwei Stunden langen Abends immer wieder die Begriffe „Wir“ und „Die“ fallen, wenngleich die Diskussion im Publikum von Respekt und Offenheit geprägt war.

Emotional aufgeladener Debatte sachliche Argumente gegenübergestellt

Zunächst erinnerte Geipel an einen Aspekt, der in der Diskussion um den Mauerfall bisweilen untergeht: dass der 9. November eine „Revolution ohne Blut“ war. Dafür beneideten die Franzosen die Deutschen, sagte die studierte Germanistin, Philosophin und Soziologin. Sogleich warf sie aber ein, dass dieses Datum für manche Deutsche im Rückblick der schönste, für andere der schlimmste Tag in ihrem Leben gewesen sei, um dann die Frage zu stellen: „Wann haben wir uns so auseinanderdividiert?“

Nach Worten von Geipel haben Intellektuelle, darunter der Psychiater und Autor Hans-Joachim Maaz mit seinem Buch „Gefühlsstau“, in den Jahren nach der Wiedervereinigung ein Bild von Ostdeutschen als „Bürger zweiter Klasse“ gezeichnet. Außerdem sei das allgemein in der Öffentlichkeit verbreitete Bild über das Gebiet der ehemaligen DDR häufig von Ostdeutschen geprägt. „Wo sind die Erzählungen der Westdeutschen?“, fragte sie.

Geipel versuchte, die seit je emotional aufgeladene Debatte mit sachlichen Argumenten und Umfragewerten einzuordnen. Nach Angaben der Schriftstellerin wird das individuelle Bild über die DDR je positiver, desto länger die Wiedervereinigung zurückliegt, die Vergangenheit bisweilen verklärt. Als Beispiel hierfür nannte sie das heute vergleichsweise positive Bild über die Bildungs- und Gesundheitspolitik in der Diktatur.

Expertin plädierte für mehr positive Geschichten über Ostdeutschland

Zudem sagte die Wissenschaftlerin, dass viele der heutigen Erzählungen über die DDR und den Kommunismus nicht der Realität entsprächen. Da sei zum Beispiel das Buch „Nackt unter Wölfen“ des Schriftstellers und Buchenwald-Häftlings Bruno Apitz aus dem Jahr 1958, das später in der DDR zum Schulstoff gehört habe. Der Roman zeichnet das Bild einer kommunistischen Widerstandgruppe unter Häftlingen im Konzentrationslager Buchenwald, das einen drei Jahre alten Jungen unter Einsatz des eigenen Lebens vor dem Tod bewahrt hat. Damit passte es gut in die Selbstinszenierung der DDR als Kämpfer gegen den Faschismus. Das sei jedoch ein falsches, ein heroisches Bild, sagte Geipel. Nach Angaben der Publizistin hat die kommunistische Widerstandsgruppe innerhalb des Konzentrationslagers in den Monaten vor der Befreiung im April 1945 mehr und mehr Einfluss genommen, die sogenannte Lager-SS wiederum hat die Kontrolle über die Häftlinge verloren. Das Töten sei aber nicht beendet worden, äußerte sie.

Später spannte Geipel den Bogen zur AfD und sagte, dass es nicht reiche, wenn die Bensheimer in Bensheim auf die Straße gingen. Vielmehr müssten sie in Dresden demonstrieren, einer Stadt, die sich in den vergangenen zehn Jahren gewandelt habe. Zudem machte Geipel auf ein aus ihrer Sicht weiteres Problem aufmerksam: die sozialen Medien. „Bei Tiktok ist die DDR das Paradies für die Jungen.“ Nicht unbeteiligt am Erfolg dieser Geschichtsumschreibung ist Geipel zufolge unter anderem die Bundeszentrale für politische Bildung, die es nach Auffassung der Wissenschaftlerin nicht geschafft hat, „solides Wissen auf Social Media mitzugeben“. Was den jungen Leuten außerdem fehle: „Wir haben der Generation ohne Diktaturerfahrung nicht klargemacht, was Diktatur bedeutet.“

Zudem plädierte die Expertin für mehr positive Geschichten über Ostdeutschland. „Die gesamte Infrastruktur im Osten ist vom Feinsten“, sagte Geipel und ergänzte, dass diese besser sei als im Rhein-Main-Gebiet. Hier gab es keinen Widerspruch. Für Kritik sorgte eine andere Aussage. Der Publizistin zufolge gibt es in Ostdeutschland in Teilen eine Verklärung der Vergangenheit. Die Ostdeutschen wollten keine Geschichten über Einzelschicksale während des diktatorischen Regimes hören, stattdessen gebe es fast nur Geschichten über gedemütigte Ostdeutsche, für die nach der Wende der soziale Abstieg begonnen habe.

„Wo sehen Sie die Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westdeutschland?“

Diese Äußerung wollten nicht alle im Publikum stehen lassen. Geipel spreche zu pauschal über die Ostdeutschen, sagte eine Zuschauerin, die dafür vereinzelt auf Zustimmung unter den Gästen stieß. Zudem sprach sich die Frau dafür aus, den Lehrplan antichronologisch zu gestalten, um der Geschichte der DDR im Unterricht mehr Zeit zu widmen. Eine jüngere Zuschauerin gab jedoch zu bedenken, dass die Lehrkräfte schon jetzt nicht genug Unterrichtsstunden hätten, um die zwölf Jahre des NS-Regimes ausführlich genug zu behandeln. Wichtig war für sie, den Kontakt zu jungen Leuten auf Tiktok zu suchen. Zumal an diesem Dienstagabend praktisch keiner aus der Generation Z vertreten war. Fast alle der etwa 50 Besucher waren Zeitzeugen des Mauerfalls.

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Ein in West-Berlin aufgewachsener Mann, Jahrgang 1955, berichtete von seinen Erfahrungen und nahm die Westdeutschen in die Pflicht. Nach seinem Umzug nach Mannheim habe er in den Neunzigerjahren nicht den Eindruck gehabt, dass sich seine Arbeitskollegen für den Osten interessiert hätten. Dazu passte die Frage einer Zuschauerin, die von Geipel wissen wollte: „Wo sehen Sie die Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westdeutschland?“ Doch bevor die Publizistin darauf eingehen konnte, hatte bereits eine andere Zuschauerin begonnen, abermals über das Bildungssystem der DDR zu sinnieren. Kurze Zeit später schloss Veranstalter Fischer die Diskussionsrunde. Und die Frage nach den Gemeinsamkeiten im heutigen Deutschland? Sie blieb an diesem Abend unbeantwortet.

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