Bensheim. Ihre Namen waren Dani, Ruffka oder Arie. Damals waren sie zwischen sechs und fünfzehn Jahre alt: Jüdische Kinder aus Polen und Russland, die ihre Eltern durch den Nazi-Terror verloren hatten und nach Kriegsende allein und obdachlos verzweifelt durch Europa streiften. Immer auf der Suche nach einer Zukunft in Frieden und Freiheit. In einem Kinderlager in Lindenfels fanden viele dieser Kinder von 1946 bis 1948 vorübergehend Geborgenheit und ein neues Zuhause.
Ein kurzes und weitgehend vergessenes Stück regionaler Geschichte, das die Frankfurter Autorin Yvonne Menne vor 22 Jahren in einem bewegenden Fernsehfilm für den Hessischen Rundfunk nacherzählt hat. In einer aufwendigen Recherche hat sie einige der Kinder von damals wiedergefunden. Ihre Geschichte hat sie im Film „Das Lager der verlassenen Kinder: Lindenfels, die Überlebenden und der Exodus“ verewigt. Eine Spurensuche, die in Lindenfels begann und bis nach Israel führte.
Am Dienstag war die Filmemacherin zu Gast in der Geschwister-Scholl-Schule, die am 22. Februar ihren alljährlichen Gedenktag zur Erinnerung an ihre Namensgeber organisiert. Schulleiter Thomas Stricker begrüßte den Ehrengast im Forum der Schule. Lehrer Frank Maus moderierte die Runde, die als Kernveranstaltung des Gedenktags im Zentrum stand.
Verängstigt und verstört
Nach der Filmvorführung hatten die anwesenden Oberstufenschüler Gelegenheit, mit der Autorin ins Gespräch zu kommen. Mit auf dem Podium waren auch der Lindenfelser Bürgermeister Michael Helbig sowie Zeitzeuge Otto Schneider. Der langjährige Lindenfelser Stadtrat wurde 1940 geboren und hat dieses Kapitel lokaler Historie noch persönlich miterlebt.
„Die örtlichen Kinder hatten so gut wie keine Kontakte mit den jüdischen Kindern“, berichtete Schneider in Bensheim. Dennoch kann er sich an einige Begegnungen aus dem familiären Umfeld noch gut erinnern. Auch daran, dass sich jüdische Lehrer und Erzieher, zumeist ebenfalls Überlebende des Holocaust, sich damals um die verängstigten und verstörten Jungen und Mädchen gekümmert hatten, die im Odenwald als sogenannte „Displaced Persons“ (DP) aufgenommen wurden: So nannte man Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Flüchtlinge und befreite KZ-Insassen, die von den Alliierten und internationalen Hilfsorganisationen in ihre Heimatländer oder in eine neue Zukunft begleitet werden sollten. Für die Kinder aus Lindenfels hieß diese neue Heimat Israel.
In der Dokumentation erzählen einige von ihnen von ihrem Leben in Lindenfels und dem mühsamen Weg mit dem berühmten Flüchtlingsschiff Exodus in Richtung Palästina. Eine Odyssee, denn die britische Marine kaperte das Schiff vor Palästina und brachte die Flüchtlinge nach Deutschland zurück. In der Nähe von Lübeck wurden sie eingesperrt und von deutschen Polizisten bewacht.
Auch der Transport in gesicherten Zugwaggons weckte schlimme Erinnerungen an die Deportationen nach Auschwitz und in andere Todeslager. Über ein Jahr später erreichten die „verlassenen Kinder“ ihre neue Heimat Palästina, was allmählich zu ihrem Zuhause wurde.
Nicht ohne Spannungen
Der Aufenthalt in Lindenfels verlief nicht ohne Spannungen zur deutschen Bevölkerung. Eine Ausnahme war der schon damals hoch betagte Hermann Schacker, der den Kindern im Lager Klavierunterricht erteilt hatte. Die Doku berichtet auch von der Fürsorge einiger Einheimischer, die sich liebevoll um die jüdischen Kinder gekümmert hatten. Zu Wort kommen Lindenfelser, die nicht alle Gedanken an jene Zeit aus ihrem Gedächtnis vertrieben haben.
Mitte der 40er Jahre begrüßte die Stadt keine Kurgäste, sondern junge „Bombenflüchtlinge“, so Yvonne Menne. „Einige erschienen sehr nervös, viele haben ständig geweint“, sagt eine Zeitzeugin in die Kamera. Zwischen 1946 und 1948 lebten rund 450 jüdische Kinder – die meisten von ihnen Waisen aus Polen und Russland – im Ort.
Hier warteten sie auf die (damals illegale) Auswanderung nach Palästina. Als Mitglieder der zionistischen Jugendbewegung Shomer Ha’Zair marschierten sie an Festtagen uniformiert durch den Kurort, wie Bildmaterial zeigt.
Auch das Kinderlager, das die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) in einigen beschlagnahmten Hotels eingerichtet hatte, ist zu sehen. Auch im „Hessischen Haus“ im Stadtkern, das 2011 abgerissen wurde, waren Kinder untergebracht. Zudem diente das 1889 eröffnete Hotel als Ort für den zwischenzeitlichen Schulunterricht der jungen Menschen, von denen einige im halbdokumentarischen US-Film „Die Gezeichneten“ aus dem Jahr 1948 als Statisten zu sehen sind. Er handelt vom Schicksal vertriebener Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde aber erst ab 1961 in den deutschen Kinos gezeigt.
Yvonne Mennes Collage ist ein Zusammenschnitt verschiedener Dokumente. Zum einen basiert er auf reichhaltigem Fotomaterial, das ein Lufthansapilot der Autorin zur Verfügung gestellt hatte. Aufgrund von alten Fotoalben konnte sie ihre Recherche beginnen. Aber auch im Darmstädter Staatsarchiv wurde die Autorin fündig.
Bei der Spurensuche am Schauplatz des Geschehens stieß sie nicht nur auf Offenheit und Mitteilungsfreude. Einige Lindenfelser erklärten vage, dass man nichts mit den jüdischen Kindern zu tun hatte. Ein Mann sagte: „Die waren ja versorgt.“ Vielen älteren Bewohnern sei es schwergefallen, über dieses Kapitel zu sprechen, so Yvonne Menne. Auch der Einblick der Filmcrew ins städtische Archiv hatte sich während der Dreharbeiten alles andere als einfach gestaltet.
Auch über 50 Jahre nach Kriegsende wollten Teile der Bevölkerung ungern über dieses Kapitel sprechen.
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