Museumsverein - Johannes Chwalek berichtet in Erstlings-Roman von der Zeit im Bensheimer Konvikt / Gut besuchte Lesung im Sitzungssaal des Rathauses

Das Internat als Zufluchtsort

Von 
Thomas Tritsch
Lesedauer: 

Bensheim. Es war eine Rückkehr in ein Kapitel der eigenen Vergangenheit: Ab 1970 besuchte Johannes Chwalek sechs Jahre lang als Schüler das Bischöfliche Konvikt in Bensheim. Jetzt las er im früheren Internat, dem heutigen Rathaus, aus seinem ersten Roman „Gespräche am Teetisch“. Darin vermengt der Mainzer Gymnasiallehrer eine fiktive Geschichte mit biografischen Passagen aus seiner Kindheit und Internatszeit. Die realen Erlebnisse machen mehr als die Hälfte des Buches aus, so der Autor vor rund 60 Gästen, die der Einladung des Museumsvereins und der Stadt Bensheim gefolgt waren.

Vor seinem Roman-Debüt verfasste Chwalek vorrangig Sachtexte: volkskundlich-historische Aufsätze, Rezensionen und Erzählungen. Das frühere Konvikt hatte er bereits zuvor in einem Text aus einer nüchternen Perspektive ausgeleuchtet. Nun wird das Internat, das 1981 geschlossen wurde, über weite Strecken der Schauplatz für eine traurige Jugend, die der zehnjährige Jeannot an Leib und Seele aushalten muss und schließlich beginnt, seine Erlebnisse in einem zunächst rein „geistigen Tagebuch“ – zu notieren. Für den Jungen nicht nur eine Form der Erinnerungs-Hygiene, sondern auch eine therapeutische Art der Auseinandersetzung mit der Welt um ihn herum.

Bilderserie zum Konvikt

Dieter Rogalli aus dem Vorstand des Museumsvereins bezeichnete das Konvikt als prominenten Teil der lokalen Geschichte. Flankierend zur Veranstaltung hatte der Verein eine kleine Bilderserie zusammengestellt, die das Leben im damaligen Bischöflichen Konvikt dokumentiert.

Chwalek, Jahrgang 1959, erlebte das Haus sowohl als Fluchtpunkt wie auch als Lernort, der ihm neben einer Vermittlung des klassischen Unterrichtsstoffs auch Augen und Ohren für eine größere Welt geöffnet hat: Ein Erzieher wird auf das stille, literarisch interessierte Kind aufmerksam und trifft sich regelmäßig zum Dialog – eben jene Gespräche beim Tee. Der Präfekt wird sein Mentor und Förderer. Es geht um Menschenrechte, Philosophie und Demokratie. Die Recherche über einen ehemaligen Schüler, der gegen das NS-Regime Widerstand geleistet hat, verschlägt beide ins Mainzer Stadtarchiv.

Lakonisch und schnörkellos

Der Autor lässt den Protagonisten aus der Ich-Perspektive sprechen, gibt ihm eine Stimme, die in ihrem lakonischen und schnörkellosen Ton aus einem erdrückenden Mikrokosmos berichtet. Auf den Leser wartet ein kühl geschildertes Protokoll aus Grausamkeit, Gleichgültigkeit und Zynismus, die ein junges Leben in einer pfälzischen Kleinstadt prägen. Der Sohn leidet an der bigotten Moral hinter einer vermeintlich gutbürgerlichen Fassade, die in Wahrheit nur die Kulisse für Gewalt und seelische Demütigungen darstellt. Die Stiefmutter prügelt die vier Kinder ihres Mannes, die er aus der ersten Ehe mitgebracht hat. Die beiden gemeinsamen Kinder bleiben verschont.

Der „biologische Vater“, der im Buch – wohl aus emotionaler Distanz – gefühlt tausend Mal genauso genannt wird (Varianten sind des Autors Sache nicht), stärkt der bösen Stiefmama noch den Rücken. Auch die schulischen Leistungen fallen ab. Mit elf Jahren wechselt Chwalek die Schule, kommt wie sein Romanprotagonist in ein Internat in Bensheim. Hier findet er Schutz vor der Gewalt. Und während seine Mitschüler sich immer wieder darauf freuen, nach Hause zu fahren, bedeutet die Heimkehr ins berüchtigte „Einfamilienhaus“ für Jeannot gleichsam Ferien im Folterkeller. „Ein Fluch, zu leben“, sagt er im Roman.

Das Internat als Ort der Befreiung und der individuellen Entwicklung: Hier beginnt der große Schweiger, ein richtiges Tagebuch zu führen, in dem er zurückliegende Erlebnisse festhält und den Alltag im Konvikt beschreibt. Szenen, die Kenner des Gebäudes bekannt vorkommen. Auch die Kapelle, heute Sitzungssaal, wird wiederholt genannt.

„Gespräche am Teetisch“ ist dann auch eine gewollte Erinnerungs-Fundgrube für „alte Bensheimer“, die im nostalgischen, aber nicht immer nur erfreulichen Schulalltag baden wollen. Die literarische Qualität findet sich vor allem in der nüchternen Schilderung der psychischen Belastungen, die gerade durch ihre unprätentiöse, auf Effekte verzichtende Klarheit den Leser in Hirn und Herz zu erreichen vermag. Der Autor nutzt die Literatur als Ebene zum Verarbeiten des Erfahrenen auf einer höheren, ästhetischen Ebene.

Gedenkminute für Georg Stolle

Nach dem Besuch des Knabeninternats wird Johannes Chwalek zunächst Erzieher. Er macht sein Abitur nach und studiert Germanistik, Philosophie, Geschichte und Volkskunde an der Mainzer Johannes Gutenberg-Universität. Mit einem Magister-Abschluss und dem Ersten Staatsexamen in der Tasche entscheidet er sich, Lehrer zu werden. Das Referendariat verschlägt ihn nach Trier. Am Mainzer Gymnasium in der Oberstadt unterrichtet Chwalek seit gut zehn Jahren Deutsch, Geschichte und Philosophie. Mit seiner Familie lebt er in Kostheim.

Bürgermeister Rolf Richter rief im Rahmen der Veranstaltung zu einer Gedenkminute für den kürzlich verstorbenen Ehrenbürgermeister Georg Stolle auf, der ebenfalls das Konvikt besucht hatte.

Missbrauchsvorwürfe kamen 2010 an die Öffentlichkeit

Und wie ging es weiter im Konvikt? Zum Ende des Schuljahres 1980/1981 wurde die katholische Einrichtung geschlossen. Seine Entscheidung hatte der Träger, das Bischöfliche Ordinariat in Mainz, bereits am 4. Juni 1980 getroffen und kurz danach bekanntgegeben. Damals wurden ausschließlich Kostengründe als Motiv angegeben. Allerdings war das Haus bis zuletzt voll belegt, Hinweise auf etwaige finanzielle Schwierigkeiten hatte es vorher nie gegeben.

Im Kontext der Missbrauchsvorwürfe, die 2010 an die Oberfläche gelangt waren, wurden aus Mainz auch andere, „pädagogische“ Hintergründe genannt. Vor zehn Jahren teilte das Bistum mit, dass ein Sozialarbeiter (der damalige Leiter) und ein Priester Kinder sexuell missbraucht und misshandelt haben könnten. Die Vorfälle sollen sich in den 1960er und 70er Jahren ereignet haben.

Johannes Chwalek hatte bereits damals zu diesem Thema recherchiert. Sein Text enthält Andeutungen über sexuelle Übergriffe durch den Rektor der Jahre 1973 bis 1979. Chwalek berief sich auf mehrere frühere Konviktschüler, die sich ihm anvertraut und von sexuellen Übergriffen berichtet hätten, hieß es damals.

Im März 2010 hatte die Bischöflichen Pressestelle in Mainz gegenüber dieser Zeitung dann eingeräumt, dass sich ein potenzielles Missbrauchsopfer per E-Mail an die Diözese gewandt habe mit einer Schilderung von sexuellen Übergriffen durch den bis 1979 amtierenden Leiter. Die Äußerungen wurden damals als glaubwürdig eingestuft. tr

Freier Autor

Copyright © 2025 Bergsträßer Anzeiger

  • Winzerfest Bensheim