Bensheim. Am Dienstagvormittag wurde Bundespräsident a.D. Christian Wulff mit kräftigem Applaus als 15. Gast des Scholl-Forums an der Geschwister-Scholl-Schule (GSS) empfangen. Im vorwiegend mit Schülerinnen und Schülern besetzten Forum war kaum noch ein Platz zu finden. Als Themenschwerpunkte standen die Integration muslimischen Lebens in Deutschland, das Amt des Bundespräsidenten sowie die Gefährdung der Demokratien auf der Agenda. Bensheims Bürgermeisterin Christine Klein begleitete den Ehrengast bei seinem Eintreffen und nahm an der gesamten Veranstaltung teil.
Nach einer kurzen musikalischen Einstimmung durch einen Schüler auf dem Flügel begrüßte der Schulleiter Thomas Stricker den früheren Bundespräsidenten. Er dankte allen an der Vorbereitung Beteiligten und dabei insbesondere Stefan Trier, der als Fachbereichsleiter für gesellschaftswissenschaftliche Aufgaben den hohen Besuch initiiert habe. Der Schulleiter wies darauf hin, dass es dort sehr viele Möglichkeiten zur Qualifizierung gebe und ein großer Anteil der Schülerschaft muslimischen Hintergrund habe. Die GSS gebe allen dort Lernenden ihre Chancen und erfülle den Begriff Toleranz tagtäglich mit Leben.
Die Bürgermeisterin betonte, sie sei der Geschwister-Scholl-Schule tief verbunden, ihre drei Kinder seien alle hier unterrichtet worden. Die Schule mache ihrem Namen alle Ehre, und gerade heute sei es sehr wichtig, für die Demokratie einzustehen.
Christian Wulff verzichtete auf das angebotene Rednerpult und sprach in seiner gut zwanzigminütigen Rede im lockeren Plauderton zu den jungen Menschen, deren Aufmerksamkeit er ganz offensichtlich stets hatte. Wobei er sich immer wieder selbst bremsen musste, um den zeitlichen Rahmen nicht zu sprengen. Vor etwa 35 Jahren sei er schon einmal in Bensheim gewesen, damals habe er als Rechtsanwalt eine Schülerin in einem Rechtsstreit vor dem hiesigen Gericht vertreten. Er beneide sein junges Publikum ein wenig um die vor ihm liegenden Möglichkeiten und erinnere sich gerne an seine Zeit als Schülersprecher, die allerdings fünfzig Jahre zurückliege.
Wulff gewährte Einblick in die Verantwortungen und Aufgaben eines Bundespräsidenten
Er beschrieb die Aufgaben, die einem Bundespräsidenten als höchstem Repräsentanten des Staates zufallen, hob allerdings hervor, dass die wichtigste Institution das Parlament also der Bundestag sei, weshalb auch die Bundestagspräsidentin das zweithöchste Amt bekleide. Die Funktion des Bundespräsidenten sei eher repräsentativer Art, der Amtsinhaber habe keine unmittelbare Verantwortung beispielsweise für das Entstehen von Gesetzen.
Circa 60 Prozent der präsidialen Aufgaben haben außenpolitischen Charakter. So wird die Bundesrepublik bei Auslandsreisen repräsentiert, ausländische Staatsoberhäupter werden empfangen und alle ausländischen Botschafter müssen beim Präsidenten akkreditiert werden und dort auch ihren Antrittsbesuch machen.
Etwa 30 Prozent beschäftigen sich mit dem Wirken für den Zusammenhalt der Gesellschaft, so könne der Bundespräsident Orden neu schaffen, bestehende erweitern und solche an verdiente Menschen verleihen. Darüber hinaus gehören Ansprachen zu Jahrestagen oder bei tragischen Ereignissen.
Zu den restlichen etwa 10 Prozent der Aufgaben des Bundespräsidenten gehört es, dem Amt angemessene, bedeutende Reden zu halten, gegebenenfalls Probleme und mögliche Lösungswege aufzuzeigen und dabei bisweilen auch zu provozieren. So habe er beispielsweise den Begriff „bunte Republik“ geprägt, mit dem er bei gleicher Leistung auch gleiche Chancen unabhängig von Name und Herkunft eingefordert habe. Noch weitaus provokanter hätten jedoch viele seine Aussage empfunden: „Der Islam gehört zu Deutschland!“ Diese werde bis heute kontrovers diskutiert.
Junge Menschen müssen das finden, wofür sie „brennen"
Im Anschluss ging der Altbundespräsident auf die größten gesellschaftlichen Herausforderungen ein. Zum einen sehe er als eine solche die Tatsache, dass die Zahl der Erwerbstätigen aufgrund der Altersstruktur sehr stark zurückgehe, was allein durch die im Vergleich zu früheren Jahren deutlich gesteigerte Produktivität nicht aufgefangen werden könne. Hier könnten nach seinem Dafürhalten Antworten im verstärkten Einsatz von KI und in geordneter Zuwanderung liegen.
Als zweite vorrangige Herausforderungen sieht er die Art der gesellschaftlichen Kommunikation, die inzwischen oft von schnellen und häufig negativen Nachrichten im Internet geprägt sei. Man solle zwar seine Meinung laut kundtun und standhaft vertreten, die Art der Meinungsbildung sei jedoch oft zu wenig fundiert. Er empfehle Eltern, ihren Kindern als wichtigstes Startkapital den Beitrag für eine politische Partei und ein Zeitungsabonnement zu finanzieren. Aus Tageszeitungen würde sich jede/r zunächst das heraussuchen, das die jeweilige Person am meisten interessiere. Nach und nach ergebe sich aber auch meist ein Zugang zu anderen Themenbereichen. Man müsse als junger Mensch erkennen, für was man „brenne“ und sich dann am besten in diese Richtung orientieren. Wer sein Hobby zum Beruf mache, der brauche ein Leben lang nicht zu arbeiten.
Aktuelle Gefahren für die Demokratien sieht das frühere Staatsoberhaupt sehr wohl. Beispielsweise in den USA oder in der Türkei seien diese Gefahren schon sehr weit fortgeschritten und deutlich sichtbar. In Deutschland habe es nach dem Krieg eine Phase der Demut und der Bereitschaft zur Versöhnung gegeben. Diese sei jedoch mit der Zeit einer Phase der Gleichmut gewichen, in der Demokratie und Wohlstand als Selbstverständlichkeiten angesehen würden. Darüber hinaus sei der deutsche Alltag von einer starken „Motzigkeit“ geprägt, viele hätten offenbar einen verstellten Blick, jammerten auf sehr hohem Niveau und neigten dabei offenbar auch zu einer Art „Verzwergung“, so Wulff, bei der die tatsächlichen Möglichkeiten der immer noch drittgrößten Volkswirtschaft nicht ausreichend wahrgenommen würden. Aber er halte es mit Hölderlin, der formuliert habe: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“ Das junge Publikum ermunterte Wulff, Schwierigkeiten nicht aus dem Weg zu gehen, sie zu bewältigen verschaffe Genugtuung.
Christian Wulff legte sein Bild von gelungener Integration vor
Nach Gleichmut folge inzwischen auf vielerlei Ebenen bereits Hochmut, wenn beispielsweise Elon Musk verkünde, die größte Schwäche Europas sei Empathie, oder wenn sich an vielen Stellen in beängstigendem Ausmaß das Recht der Stärkeren Bahn bricht. Zum Abschluss forderte der frühere Bundespräsident, die junge Generation solle sich mit Versöhnungsbereitschaft und Toleranz an die Gestaltung der Zukunft wagen.
Sein Schlusssatz: „Seien Sie wachsam, sagen Sie Ihre Meinung und treten Sie für eine bessere Welt ein, dann wird sie sicher auch besser werden!“ wurde mit heftigem Applaus bedacht.
Drei junge Menschen stellten dann dem Ehrengast, der jetzt auch sein Sakko ablegte, ihre sorgsam vorbereiteten Fragen, die er offen und ohne auszuweichen beantwortete. Im Anschluss folgten mit reger Beteiligung Fragen aus dem Publikum, beispielhaft seien einige Antworten genannt.
Gelungene Integration ist aus Sicht von Christian Wulff abhängig vom Beherrschen der Sprache, von Bildung und von entsprechenden positiven Netzwerken. Es sei nicht hilfreich, Zugewanderte zu ignorieren oder gar zu problematisieren, vielmehr müsse man sie für gemeinsame Ziele wie Sportvereine, Feuerwehr oder ähnliches gewinnen und dadurch zu deren Integration beitragen.
Er erläuterte seine Schwierigkeiten, sich vom „parteiischen“ Ministerpräsidenten zum überparteilichen Bundespräsidenten zu „wandeln“. Eine Direktwahl für dieses Amt lehnte er auf entsprechende Nachfrage ab, das würde einen Wahlkampf notwendig werden lassen und eventuell das Amt beschädigen; zudem würden die Erwartungen an die Ausgestaltung des Amtes dadurch überhöht.
Populismus müsse man mit Zuhören begegnen
Die Frage, ob er eine Gefährdung durch extreme Kräfte sehe, bejahte er. Der unbedingt zu erhaltende Vorteil der Demokratie, dass jeder sich äußern dürfe, beinhalte gleichzeitig die Gefahr. Extreme Kräfte müssten argumentativ bekämpft werden, damit sie keine Mehrheit bekämen. Die Mehrheit müsse stets davon überzeugt sein, die Rechte der Minderheiten zu gewährleisten. Die Parteien dürften sich nicht die Themen von radikalen Kräften vorgeben lassen, sondern selbst Lösungen bei den wichtigen Themen anbieten. Populismus müsse man mit Zuhören begegnen, das sei zwar sehr mühsam aber notwendig. Der Politikverdrossenheit müsse mit effizientem Handeln in entscheidenden Bereichen wie Wohnungsbau und Altersfinanzierung begegnet werden.
Zum Abschluss widmete sich der Altbundespräsident in kleinerer Runde noch Fragen zum Thema Religion. Er stellte klar, dass er dem Islamunterricht positiv gegenüber stehe. Er selbst habe ihn in Niedersachsen eingeführt und den Eindruck gewonnen, muslimische Menschen hätten sich dadurch gleichberechtigter gefühlt.
Ein Kopftuchverbot halte er für bestimmte Berufsgruppen wie Justiz, Polizei und Bundeswehr für angebracht, für Lehrerinnen erachtet er es nicht als notwendig. Muslime in der Politik begrüßt er, in seinem Kabinett habe es die erste muslimische Ministerin gegeben.
Nach der Rolle der Religion in der Gesellschaft gefragt, verwies Wulff auf die Trennung zwischen Staat und Kirche, nach seiner Ansicht kann Religiosität insgesamt hilfreich sein, da die Religionen grundsätzlich positive Menschenbilder prägten. Er glaube persönlich auch nicht, dass eine Welt ohne Religionen friedlicher wäre.
Menschen mit Einwanderungsgeschichte hätten zusätzliche Perspektiven und trügen dadurch zu Vielfalt bei, ist Wulff überzeigt. Vielfalt sei zwar anstrengend, aber auch das Gegenteil von Einfalt, und wer wolle schon als einfältig gelten?!
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