Bensheim. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die letzte Bensheimer Synagoge von regionalen Nazis zerstört. Am gleichen Ort fand am Freitag die jährliche Gedenkveranstaltung statt, die von der Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger in Zusammenarbeit mit der Stadt Bensheim veranstaltet wird. Unterstützt wird der zweiteilige Abend mit Gedenken und anschließendem Vortrag traditionell von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im Kreis Bergstraße und dem Synagogenverein Auerbach.
In diesem Jahr hatte der Termin – wie alle weiteren im ganzen Land – eine neue Qualität: Die Bedrohung jüdischen Lebens in der Gegenwart hat einen Höhepunkt erreicht. Antisemitische Übergriffe und Bedrohungen waren niemals verschwunden, doch seit dem Überfall der terroristischen Hamas auf Israel spielen sich auf deutschen Straßen beunruhigende Szenen ab. In Berlin, Essen und Frankfurt beispielsweise versammeln sich fast jeden Tag Menschen, um die Terrorakte der Hamas zu feiern. 450 solcher Demonstrationen wurden seither verzeichnet.
Erinnern als Notwendigkeit
„Jüdische Frauen und Männer müssen sich bei uns sicher fühlen können“, betonte Bürgermeisterin Christine Klein vor rund einhundert Teilnehmer im Foyer der Anne-Frank-Halle am Bendheim-Platz. Die sei momentan nicht der Fall. Judenfeindliche Hetze sei an der Tagesordnung. Aussagen, die lange zurecht als inakzeptabel galten, seien wieder hoffähig geworden, so Klein. Das Gift des Antisemitismus dürfe sich nicht weiter ausbreiten.
Jeder Demokrat in der Gesellschaft sei aufgerufen, sich in diesem Sinne unmissverständlich zu positionieren. Die Ereignisse der letzten Wochen machten auf schreckliche Weise deutlich, dass regelmäßiges Gedenken und Erinnern notwendig und wichtig seien, sagte die Bürgermeisterin nach der musikalischen Eröffnung der einstündigen Veranstaltung durch Hannelore Schmanke und Marie Arnold an der Querflöte.
Die Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger erinnert bereits seit 1977 an die Zerstörung der 1892 erbauten Synagoge. Man habe dabei ausdrücklich alle Opfer des Nationalsozialismus im Blick, so Peter E. Kalb. Ein besonderes Augenmerk gelte aber dem Holocaust an den europäischen Juden, der im Jahr 1938 seinen Anfang nahm: Die Novemberpogrome markierten den Beginn der staatlich organisierten Verfolgung und streng systematischen Vernichtung.
Antisemitische Gewalt zeige sich wieder ganz offen
Ein Vorspiel zum Völkermord, das auch in Bensheim vor den Augen aller Bewohner stattgefunden hat. Der Vorsitzende verwies auf die Essener Pro-Palästina-Kundgebung vor gut einer Woche, wo unter anderem Transparente mit der Forderung nach der Errichtung eines islamistischen Kalifats gezeigt worden waren. Trotz massiver Präsenz habe die Polizei dort nicht eingegriffen, so Kalb: „Der Staat ist überfordert!“
Antisemitische Gewalt zeige sich in Deutschland wieder völlig offen. „Werden nun bald wieder die Koffer gepackt?“, fragte Kalb angesichts der öffentlichen Bedrohungen jüdischer Menschen, die nicht erst seit dem Hamas-Angriff wieder häufiger registriert werden.
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Der öffentliche Fokus liege derzeit auf der Verherrlichung des Hamas-Terrors durch linke und islamistische Antisemiten, zitierte er Zahlen der Amadeu-Antonio-Stiftung. In Deutschland sehen sich Juden einer beunruhigenden Zunahme von Bedrohungen ausgesetzt, zu diesem Schluss kommt das Zivilgesellschaftliche Lagebild Antisemitismus, das die Stiftung vor wenigen Tagen vorgestellt hat. Seit 7. Oktober gebe es Judenhass auf einem seit Jahrzehnten nicht mehr da gewesenen Niveau.
Peter E. Kalb (Jahrgang 1942), der als Student Zeugen im Frankfurter Auschwitzprozess betreut hatte, bezeichnete Antisemitismus als gesellschaftliches Problem, das seine stärksten Wurzeln in rechten Milieus mit tradierten antisemitischen Weltbildern habe. Durch eine gezielte Bildung junger Menschen könne es gelingen, frühzeitig über historische Fakten aufzuklären und ein demokratisches Fundament zu schaffen, auf dem rechte und rassistische Ideen schwerer gedeihen könnten. Dieser Herausforderung müsse sich letztlich aber die gesamte Gesellschaft stellen.
Zäsur im jüdischen Leben
Mit Bildung gegen ein rechtes, ausgrenzendes Weltbild: Auch Henrik Drechsler glaubt, dass dies einer der entscheidenden Hebel ist, an dem man ansetzen müsse. Der Historiker ist Mitarbeiter im „Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz“ in Mainz. Die Bildungseinrichtung für Jugendliche und Erwachsene versteht sich als Gedenkort und Ort der Begegnung. Der Bildungsreferent sprang kurzfristig für die erkrankte Leiterin Cornelia Dold ein.
Die Pogrome von 1938 bezeichnete er als Zäsur im jüdischen Leben in Deutschland und Europa. Antisemitismus sei keine Erfindung der Nazis gewesen, habe in seiner systematischen Ausformung aber eine neue Dimension erreicht. Viele Denkmuster und Stereotype hätten das Ende des Krieges überlebt, sagte er. Nach 1945 sei über die eigene nationale Vergangenheit ungern gesprochen worden – erst Ende der 70er und zu Beginn der 80er Jahre habe man das Schweigen zumeist auf lokaler Ebene überwunden und wahrhaftig in der Vergangenheit geforscht.
„Man hatte Zugang zu Archiven, sprach mit Zeitzeugen und öffnete die damaligen Vernichtungslager für die Öffentlichkeit“, so Henrik Drechsler, der diese Zeit als Beginn einer deutschen Erinnerungskultur bezeichnet. „Das klingt nach einer Erfolgsgeschichte“, so der Historiker, dessen Einrichtung ebenfalls Besuche von Gedenkstätten anbietet. Doch ein Blick in die Gesellschaft offenbare nach wie vor ein hohes Maß an antisemitischem Gedankengut gerade auch bei jungen Menschen, was nicht selten zu einer Radikalisierung führe. „Die Bildungsarbeit steht vor großen Herausforderungen!“
Es gebe keine Musterlösungen, aber kreative Beispiele, wie man Schüler für die Vergangenheit interessieren kann. Der Klarinettist Nur Ben Shalom hat in seinem Projekt „Lebensmelodien“ Werke jüdischer Komponisten gesammelt, die damals verfolgt oder ermordet wurden. Im Dialog mit Jugendlichen habe man über die Musik die Biografien der Opfer aufgearbeitet und so eine andere Qualität von Erinnerungskultur geschaffen. Mit überaus positiver Resonanz, wie Henrik Drechsler betont.
Die aktuelle Situation kommentierte er mit Besorgnis: Zum Schutz der Menschen wurde die diesjährige Gedenkveranstaltung der jüdischen Gemeinde Mainz-Rheinhessen zum Jahrestag der Pogromnacht vor 85 Jahren von sieben Mannschaftswagen der Polizei begleitet.
Im vergangenen Jahr seien es nur zwei normale Streifenwagen gewesen. Dies zeige, dass jüdisches Leben in Deutschland derzeit nicht sicher sei.
„Eine Entscheidung zur Unzeit“
Bei der anschließenden Gesprächsrunde mit dem Historiker im Museum der Stadt Bensheim waren lediglich acht Zuhörer anwesend. Im Dialog mit Peter E. Kalb erörterte der Historiker und Pädagoge die Perspektiven, wie man junge Menschen für Antisemitismus sensibilisieren kann und wie Staat und Gesellschaft darauf reagieren könnten.
Kalb sprach in diesem Kontext von einem denkbar schlechten Signal, dass die Haushaltsmittel der Bundeszentrale für politische Bildung von der Regierungskoalition gerade in diesen Tagen spürbar gekürzt werden. Auch Drechsler sprach in Bensheim von einer massiven Beschneidung der Arbeitsmöglichkeiten für die Träger der politischen Bildung und warnte, dass viele Angebote in der Demokratiearbeit deshalb reduziert werden müssten. Auch das „Haus des Erinnerns“ sei auf Unterstützung aus diesem Etat dauerhaft angewiesen.
Darüber hinaus betonte der Historiker die Notwendigkeit von gut ausgebildetem und geschultem Personal, um die Qualität der Vermittlung beispielsweise in Gedenkstätten konstant hochzuhalten.
Dies könne aber nur durch finanzielle Stabilität gelingen. Wir brauchen kompetente Bildungsarbeiter auf allen Ebenen“, so Drechsler, der von einem Kipppunkt spricht: Während antisemitische und rassistisch motivierte Straftaten zunehmen, werde die Förderung der demokratischen Bildung ausgedünnt. Die sei eine Entscheidung zur Unzeit. tr
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