Bensheim. Am 1. Oktober übernimmt Noura Dirani die Leitung der Kunsthalle St. Annen in Lübeck. Für diese Aufgabe hat sich die 39-jährige Kunsthistorikerin, die am Lehrstuhl für Globale Kunstgeschichte in Heidelberg arbeitete, unter anderem durch ein wissenschaftliches Volontariat an der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf und anschließend als Kreativleitung des Japanischen Palais der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden qualifiziert.
Im Gespräch mit dieser Zeitung erzählt Noura Dirani von der Notwendigkeit, die Arbeit der Museen zu verändern, aber auch von den Prägungen, die sie durch ihre Heimatstadt Bensheim erfahren hat.
Frau Dirani, Warum halten Sie die Museen in der aktuellen Form nicht für zukunftsfähig?
Noura Dirani: Um ein breites Publikum zu erreichen, muss man sich von den klassischen kunsthistorischen Modellen verabschieden, die vor allem die stille Kontemplation im Blick haben und von den Besucherinnen und Besuchern in hohem Maß fordern, sich auf die Dinge einzulassen. In den Ausstellungen wird viel zu wenig auf die Lebens- und Erfahrungswelt der Besucherinnen und Besucher reagiert. Unsere global geprägte Gegenwart verändert aber die Rezeptionsgewohnheiten der Menschen, zum Beispiel durch den Einfluss des Internets.
Was sollte sich ändern?
Dirani: Die Vermittlung der Inhalte spielt eine wichtige Rolle. Zu oft werden Vermittlung und inhaltliche Bestückung der Ausstellungen als getrennte Bereiche behandelt. Ich glaube, wir bräuchten dahingehend eine neue Form der Ausbildung für Museumsmacher. Wir müssen uns fragen, welche gesellschaftliche Rolle die Museen bei uns einnehmen können. Die Bevölkerung muss viel stärker in das Geschehen mit einbezogen werden.
Und wie macht man das?
Dirani: Im Japanischen Palais habe ich zum Beispiel verstärkt pädagogische Ansätze verfolgt. Wir wollten den Ort öffnen und beleben und neue Besuchergruppen anziehen. Bei unserer Ausstellung „Museum of Untold Stories“ haben wir 2018 alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gebeten, eine bislang noch nie erzählte Geschichte beizusteuern, die etwas mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zu tun haben sollte. 76 Menschen haben mitgemacht, und ihre handgeschriebene Erzählung wurde jeweils neben dem zugehörigen Objekt präsentiert. Dabei ging es zum Beispiel um die Geschichte eines Paares, das sich vor einem Werk des Museums verliebt hatte, aber auch um eine als „entartete Kunst“ vernichtete Grafik, von der ein weiterer Druckabzug bei dem Großvater eines Mitarbeiters in der Küche hing.
Wie kommt sowas beim Publikum an?
Dirani: Bei vielen wurde durch diesen persönlichen Zugang zur Kunst deutlich die Hemmschwelle herabgesetzt. Außerdem lernten sie viele Mitarbeiter der Museen kennen. Die Besucherinnen und Besucher ließen sogar eigene Geschichten da, obwohl wir das nicht bewusst angeregt hatten. Es gab auch einen Raum mit Objekten, die Brandspuren zeigten. Das berührte die Dresdner sehr, weil dort das Trauma der Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg noch immer sehr präsent ist.
Gibt es weitere Beispiele?
Dirani: Für die Ausstellung „Die Erfindung der Zukunft“ ein Jahr später haben wir mit dem Lehrstuhl für Politik eine Umfrage unter den 15- bis 35-Jährigen in ganz Sachsen gemacht, welche Themen sie in Bezug auf die Zukunft interessieren. Dabei ging es dann um Klimawandel und Menschenrechte, aber auch um die Zeitwahrnehmung. Auf einer Freifläche von etwa 1000 Quadratmetern konnten die Besucherinnen und Besucher selbst Projekte umsetzen. Dabei entstanden zum Beispiel ein Zero-Waste-Café und eine Nähwerkstatt, die bis heute bestehen und genutzt werden. Der Eintritt in das Japanische Palais ist frei, und es kommen regelmäßig zum Beispiel 14-Jährige, die dort ihre Hausaufgaben machen. Es ist definitiv ein Ort zum Verweilen geworden.
Welche Pläne haben Sie für Lübeck?
Dirani: Es ist klar, dass ich diese Konzepte nicht einfach übertragen werde. Ich gehe immer sehr stark von dem Ort aus, an dem ich arbeite. In Lübeck bin ich beeindruckt von der Gebäudekonstellation, einem Klosterkomplex, in dem das Museum St. Annen untergebracht ist, mit der Kunsthalle St. Annen, die auf den Grundmauern der einstigen Kirche neu errichtet wurde. Und neben der Kirche ist eine Synagoge. Glaube spaltet und bringt zusammen – an was glauben wir heute? Das sind Fragen, die sich hier stellen lassen. Auch die Geschichte Lübecks als Handelsstadt hat großes Potenzial, in den globalen Dialog zu treten. Ich habe schon viele Ideen, aber als Erstes, möchte ich die vorhandene Sammlung gut studieren.
Hat das Aufwachsen in Bensheim Sie geprägt?
Dirani: Ich bin 1982 geboren und kam 1988 nach Bensheim. Wir haben acht Jahre lang in der Kleinen Hasengasse mitten in der Stadt gelebt, das war für mich als Kind sehr schön. Man konnte einfach draußen spielen, jeder kannte jeden. Ich hatte eine schöne Schulzeit an der Liebfrauenschule. Eine Erfahrung, die sich auch in meinem Berufsleben noch auswirkt: Seit der ersten Klasse bis zum Abitur habe ich bei dem Verein SSG Bensheim Jazz und Modern Dance gemacht. Wir hatten eine sehr enge Beziehung innerhalb der Gruppe und waren viel für Bensheim unterwegs. Dreimal in der Woche war Training für die Wettkämpfe – wir waren als „Explosion“ ziemlich erfolgreich. Miteinander für eine Sache zu arbeiten, Verantwortung und eine feste Rolle zu übernehmen – das habe ich da gelernt.
Solche freundschaftlichen Bindungen und insbesondere die Familie machen für mich einen Ort aus. Bis heute empfinde ich aber auch die Landschaft und vor allem die Weinberge als wunderschön. Das Klima ist so angenehm und ich vermisse die Region sehr.
Und wie kamen Sie zur Kunstgeschichte?
Dirani: Ich hatte schon immer Interesse an Kunst und lange Privatunterricht in der Malschule von Birgit Metzler. Nach dem Abitur war die Frage, Kunst zu studieren oder Kunstgeschichte. Ich habe dann mit Letzterem in Heidelberg angefangen und es war die absolut richtige Entscheidung. Ich liebe Museen schon immer, wir waren als Familie viel auf Reisen und historisch sehr interessiert.
Und nicht zuletzt gibt es in der Region hier so viele Museen, wo ich viel Kunst erleben konnte. Während des Studiums hat mich dann aber gestört, dass eigentlich nur europäische Bezüge betrachtet wurden. Die Bilderwelt der syrischen Heimat meines Vaters kam zum Beispiel einfach nicht vor. Als dann in Heidelberg der erste Lehrstuhl für Globale Kunstgeschichte eingerichtet wurde, habe ich sofort gewechselt.
Was ist denn Globale Kunstgeschichte?
Dirani: Den Forschungsbereich „Globale Kunstgeschichte“ gibt es in Deutschland nur in Heidelberg, weltweit wird er bisher von nur wenigen Universitäten betrieben. Doch das Interesse daran wird immer stärker. Die Kunstgeschichte traditionell arbeitet vor allem regional und national begrenzt. Außerhalb des Blickfelds liegen kulturelle Dynamiken und Überschneidungen. So werden Wanderungen von Ideen, Konzepten, Motiven und Materialien zwischen Kulturen häufig nicht beachtet, etwa wie stark asiatisches Porzellan im 17. Jahrhundert die europäische Kunst beeinflusst hat.
Aber es geht auch um die Erweiterung des Kunstbegriffs in Richtung Materielle und Visuelle Kultur, indem man etwa verstärkt Gegenstände des Alltags in den Blick nimmt. Dadurch können bisherige kunsthistorische Klassifizierungen und Zuordnungen zu Stilrichtungen, Geografien und Genre hinterfragt und neu bewertet werden.
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