Bensheim. Wer in Bensheim die Auerbacher Straße sucht, findet heute nur noch einen Auerbacher Weg. Früher hieß so die heutige Darmstädter Straße Richtung Norden, die ab dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs mit Wohnhäusern bebaut wurde. Die Stadt Bensheim warb damals überregional um wohlhabende Bürger, die sich in neuen Stadtvierteln um die Altstadt herum ihre Landsitze schaffen sollten. Dort finden sich nun bis heute viele Villen unterschiedlicher Architekten im Stil des Historismus, aber auch mehrere Häuser, die Heinrich Metzendorf geplant hat. Insbesondere an der Westseite der Darmstädter Straße verblüfft heute die buchstäblich geringe Berührungsangst, die man bei der Errichtung der repräsentativen Wohnhäuser in Bezug zur Straße hatte.
Ein achteckige Eckerker aus Sandstein
Markant sitzt eines der Häuser sogar direkt auf der Ecke zwischen Darmstädter Straße und der steil abwärts führenden Friedrichstraße und betont diese Stelle mit einem geradezu gewagt vor den Baukörper gesetzten Erkerturm. Der markante Ziegelbau im Stil der Neorenaissance wurde 1899 errichtet, wie im Giebel zur Darmstädter Straße hin dokumentiert ist. Bauherr war der seit 1873 in Bensheim ansässige evangelische Kreisveterinärarzt Dr. Rudolph Güngerich.
Der zweigeschossige, achteckige Eckerker aus Sandstein ist reich verziert und tritt in Konkurrenz mit der repräsentativ gestalteten Hauptfassade zur Darmstädter Straße hin. Dort ist das ansonsten eher nüchterne Gebäude mit einem Zwerchhausgiebel bekrönt, der seinerseits mit einem Zackenfries, Zahnschnittornamentik und Pyramidenaufsätzen dekoriert ist und das Baudatum 1899 trägt.
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Der im ersten Obergeschoss befindliche Erker gehörte zum größten Raum des Geschosses und setzt sich im Dachgeschoss in einem Turm fort. Die Fassadengliederung betont die Vertikale und spielt auf mittelalterliche, gotische Elemente an, namentlich in einer in den Originalplänen enthaltenen, den Turm bekrönenden Fiale, die heute einer einfacheren Dachbekrönung gewichen ist – sofern sie jemals umgesetzt worden war.
Der besondere historisierende Charakter des Erkers wird durch farbig verglaste Fenster betont, die aktuell leider im Verfall begriffen sind. Auch mehrere Um- und Anbauten seit den 1980er Jahren verändern die Ausstrahlung des Hauses erheblich.
Schon seit vielen Jahren sind im Untergeschoss des Gebäudes wechselnde gastronomische Unternehmen angesiedelt. Bei der Erbauung aber diente das ganze Haus als komfortables Wohnhaus einer wohlhabenden Familie. Es war von Anfang an mit mehreren Kaminzügen ausgestattet, im ersten Geschoss hatte es ein Badezimmer und auf allen drei Etagen je einen Abort, der an eine Sickergrube neben dem Haus angeschlossen war – damals ein noch recht neuer Luxus. Architekt des Hauses war Georg Listmann, der in den 1890er Jahren bei der Bauaufsicht am Kreisbauamt Bensheim beschäftigt war.
Bemerkenswert ist das Haus im Straßenbild vor allem wegen des vorspringenden Erkers, der wie an die Ecke des Gebäudes „angeklebt“ wirkt. Von Norden kommend kann man ihn in der Blickachse gut mit dem Erker am alten Postamt vergleichen, der sich nur vier Häuser weiter befindet und knapp zehn Jahre später errichtet wurde. Auch hier geht der Erker aus dem ersten Geschoss in einen Turmaufsatz vor dem Dachgeschoss über. Doch im Gegensatz zu den aufstrebenden Formen des Hauses an der Friedrichstraße wird bei der Post die breit gelagerte Horizontale betont.
Der Anbau eines Erkers bedeutet einen erheblichen Mehraufwand beim Bau. Das kann sich lohnen, wenn damit die bewohnbare Fläche erweitert, der Lichteinfall gesteigert oder der Ausblick größer wird. Aber Erker setzen auch deutliche Akzente an der Fassade. Im vorliegenden Falle könnte es möglicherweise vor allem um Letzteres gegangen sein, denn im Grundriss erweitert der Erker die Wohnfläche kaum, er wirkt mehr wie eine Art Ausguck, in den man treten konnte, um das Geschehen auf beiden Straßen zu beobachten.
Noch heute sagen ältere Bensheimer „Am Güngerich“
Vielleicht wollte der Bauherr damit eine hervorgehobene gesellschaftliche Stellung betonen. Noch heute sagen ältere Bensheimer mitunter „am Güngerich“, wenn sie von der Friedrichstraße sprechen. Der mehrfach mit dem Ritterkreuz unterschiedlicher Klassen des Verdienstordens Philipps des Großmütigen ausgezeichnete, 1903 zum Veterinärrat beförderte und 1910 in den Ruhestand versetzte Tierarzt Rudolf Güngerich starb 1926 in Bensheim. Sein Sohn Gustav ließ im Jahr darauf auf dem Bensheimer Friedhof ein großes Grabdenkmal für Eltern und Schwester errichten.
Damals hatte ihn sein beruflicher Erfolg schon zum Reichsgerichtsrat in Leipzig gemacht. Die Verbindung nach Bensheim blieb jedoch offenbar erhalten, denn Gustav starb 1945 in Bensheim. Sein Sohn Rudolf wurde Klassischer Philologe und lebte seit 1953 in Würzburg, wo er 1975 starb. Noch in den 1960er Jahren gehörte das Haus an der Friedrichstraße aber der Familie Güngerich.
Bewohnt haben dürften das neugebaute Haus wohl das Ehepaar Güngerich und vermutlich die unverheiratete Tochter. Lina, geboren 1870, und Sohn Gustav, geborgen 1872, waren schon Ende zwanzig, als das Haus gebaut wurde. Gustav studierte seit 1890 Rechtswissenschaften in Gießen und wurde 1898 in Heidelberg promoviert. Er heiratete im Jahr 1899 eine Tochter aus dem Hause Guntrum. Tochter Lina starb unverheiratet im März 1904, nur sieben Monate später folgte ihr die Mutter. Das Familiengrab auf dem Friedhof Bensheim Mitte existiert schon seit Jahrzehnten nicht mehr – aber der stolze Erker behauptet noch immer seinen weit in den Straßenraum hineinragenden Platz.
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