Bensheim. „Spiele sind sehr wichtig. Sie bereiten einen auf das große Spiel vor, das Leben heißt.“ Dieses Zitat stammt - der eine oder andere wird es wissen - aus dem bekannten Weihnachtsfilm „Der kleine Lord“. Es schließt an die Szene an, in der sich der kleine Cedric bei seinem Großvater, dem Earl von Dorincourt, für die vielen Spielsachen im Spielzimmer bedankt. Der Unterschied zur heutigen Zeit liegt auf der Hand. Das analoge ist heute durch das digitale Spiel ersetzt worden. Der technische Fortschritt macht’s möglich. Mit dieser Entwicklung sind jedoch auch Risiken verbunden. Die Schule als Bildungsinstitution muss sich dieser teils problematischen Entwicklung stellen. Das Alte Kurfürstliche Gymnasium tut dies seit Jahren. So auch am vergangenen Montag, als man interessierte Eltern zum AKG-Forum mit dem Titel: „Spielen ohne Grenzen – Risiken und Nebenwirkungen“ eingeladen hatte. Dafür hatte man Dr. med. Jutta Weikel von der Vitos Klinik Heppenheim gewinnen können, die am darauffolgenden Mittwoch auch für die Schüler der neunten Klassen einen Vortrag zum Thema Spielsucht hielt.
Das Thema ist nicht nur für Kinder und Jugendliche von Belang, erklärte Schulleiterin Nicola Wölbern. Sie sei sicher, dass es auch für die anwesenden Eltern „den einen oder anderen Aha-Moment“ geben werde. „Das Thema ist eines, das neuer gar nicht sein kann“, erläuterte Weikel, die ihr Abitur am AKG 1992 absolvierte. Neben der technischen Entwicklung ist vor allem die digitale Evolution des Handys für das Aufkommen von Internetsuchterkrankungen verantwortlich. Wobei streng genommen von Smartphones gesprochen werden müsste. Das Handy von damals mit Tastatur und aufklappbarem Bildschirm ist schließlich längst aus der Mode gekommen. Smartphones sind heutzutage schon bei Kindern weit verbreitet. Dazu konnte Weikel auch Zahlen vorlegen. 21 Prozent der Sechs- bis Neunjährigen würden schon über ein Smartphone verfügen. Dies sei „äußerst kritisch zu sehen“. Noch bedenklicher hingegen sei, dass bereits 80 Prozent der Kinder im Alter von zehn Jahren über ein Smartphone verfügen.
Sogenannte Internetnutzungsstörungen werden seit November 2024 durch eine neue „Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von Internetnutzungsstörungen“ (ICD-11) erfasst. Hierunter werden Computerspielstörungen als Erkrankungen geführt, die durch „Störungen aufgrund von suchtartigem Verhalten“ resultieren. Demgegenüber werden Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörungen als „spezifische Störungen aufgrund von suchtartigem Verhalten“ gefasst. Belastbare Zahlen seien noch nicht in größerem Ausmaß vorhanden, das Forschungsfeld noch entsprechend jung, erklärte Weikel. Ex existierten lediglich Prävalenzen. Damit wird die gesamte Anzahl von Fällen in einer definierten Population zu einem Zeitpunkt beschrieben. Diese liege für Computerspielstörungen bei zwei bis drei Prozent und für Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörungen bei fünf Prozent. Auf eine Klasse von 30 Schülern käme im ersten Fall ein suchtkrankes Kind.
Doch wie kommt es eigentlich zu einer Computerspielstörung und was zeichnet sie aus? Drei Kriterien sind hier entscheidend: Kontrollverlust, Interessensverlust und die Fortsetzung trotz negativer Konsequenzen. Videospiele basieren in den meisten Fällen auf einem Belohnungsprinzip. Das bedeutet, dass sie zum fortwährenden Spielen animieren. „Das größte Risiko ist die Endlosigkeit“, betont Weikel und verweist in diesem Zusammenhang auf die Dopaminausschüttung im Gehirn. Dies führt soweit, dass die äußere Umwelt immer bedeutungsloser wird. Man vergesse zu essen und zu trinken, betreibe damit „Körperschädigung“, erklärt die Medizinerin.
Als Eltern mit der Smartphone-Nutzung verantwortungsbewusst voragehen
Eine Computerspielsucht hat aber noch weitere negative Auswirkungen. Betroffene hätten mit vielen Problemen zu kämpfen. Etwa dann, wenn man sich komplett in die virtuelle Welt des Spiels zurückzieht, anstatt soziale Kontakte zu pflegen, also soziale Kompetenzen vernachlässigt werden. Die Ursachen für eine Spielsucht können dabei variieren. Weikel veranschaulicht dies anhand der Sucht-Trias. Demnach gibt es soziale, biologische und psychologische Ursachen für eine Suchterkrankung. Besonders die soziale Komponente dürfte für die Eltern von entscheidender Bedeutung sein. Gehe ich als Elternteil mit meiner Smartphone-Nutzung verantwortungsbewusst voran und fungiere als Vorbild für mein Kind? Hier ließ sich der eine oder andere ertappende Schmunzler im Publikum beobachten.
Weikel präsentierte daraufhin weitere Zahlen einer Untersuchung, die von 2019 bis 2023 stattfand und dabei unter anderem den Anstieg sowohl des Konsums Sozialer Medien als auch der Videospielnutzung durch die Pandemie untersuchte. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Im Zuge von COVID-19 wurde mehr Zeit mit digitalen Endgeräten verbracht. Dabei wurde zwischen dem riskanten und pathologischen, also krankhaften Gebrauch differenziert. Für beide Sparten ließen sich über die Zeit (September 2019 bis Juni 2022) deutliche prozentuale Anstiege sowohl für den Videospielkonsum als auch die Nutzung Sozialer Medien diagnostizieren.
Abschließend gab es auch noch einige Hinweise zur Prävention und Therapie. Die Prävention müsse eigentlich schon viel früher beginnen als erst in der neunten Klasse, bemerkte Weikel. „Das ist eigentlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Ebenso besorgniserregend sei, dass bereits sehr kleine Kinder im Alter von zwei Jahren mit dem Bildschirm „ruhiggestellt“ werden. Dies sei schädlich für das Kind und daher zu vermeiden. Abschließend gab es noch einige praktische Hinweise und nützliche Informationsquellen für die Eltern, um sich weiter über das Thema zu informieren.
Zu guter Letzt dankte Wölbern der ehemaligen AKG’lerin für ihr Erscheinen und freute sich, dass sie auch in zwei Jahren wieder für dieses Präventionsformat zur Verfügung stehe. Als Dankeschön wurde ein Getränkebecher mit dem AKG-Logo überreicht. Ein Geschenk, dass nicht in den Verdacht geriete, eine Sucht beim Beschenkten hervorzurufen, meinte Wölbern schmunzelnd. Es bleibt zu hoffen, dass sich bis in zwei Jahren einige Jugendliche auf das „große Spiel Leben“ dezidiert anders vorbereiten und wie der „kleine Lord“ auch mal zum analogen Spielzeug greifen.
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/bensheim_artikel,-bensheim-akg-forum-smartphone-_arid,2282179.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/heppenheim.html