Religion

AKG-Forum: Mut zum Zuhören statt schnelle Urteile

Das jüdisch-muslimische Ehepaar Meron Mendel und Saba-Nur Cheema spricht im AKG über interreligiöse Konflikte. Zu mehr Toleranz ist es noch ein weiter Weg.

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Marvin Zubrod
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Saba-Nur Cheema und Meron Mendel sprachen im AKG-Forum über Dialog, Identität und die Folgen des 7. Oktober. © Thomas Neu

Bensheim. Seit zwei Stunden liegt Rotem reglos unter einer Leiche. Die Terroristen haben die Tür des kleinen Hauses in Holit an der Grenze zu Gaza gesprengt, den Mann und die Frau erschossen. Jetzt sind sie fort. Der 16 Jahre alte Rotem hat zwei Kugeln im Körper, kann sich nun aber etwas bewegen und seiner Schwester eine Whatsapp-Nachricht schreiben. Die Eltern sind tot, die Leiche, unter der Rotem zwei Stunden lag, war der leblose Körper seiner Mutter, die sich schützend vor ihn geworfen hatte.

Es ist der 7. Oktober 2023, ein „Cut“ in ihrem Leben, wie Saba-Nur Cheema über den Überfall der Hamas auf Israel sagt. Die Frankfurter Muslima schreibt mit ihrem in Israel aufgewachsenen jüdischen Ehemann Meron Mendel Geschichten wie dieser israelischen Familie auf. Zudem berichtet das Ehepaar aus seinen Erfahrungen über interkulturelles Leben in Deutschland. Mit „Muslimisch-Jüdisches Abendbrot“ haben die beiden eine eigene Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und jüngst daraus ein Buch veröffentlicht.

Warum Streit zum Dialog gehört

Im AKG-Forum haben Cheema und Mendel am Dienstagabend auf Einladung des Soroptimist International Club Bensheim/Heppenheim, der sich für die Verbesserung von Mädchen und Frauen weltweit einsetzt, für mehr Dialog zwischen den Kulturen plädiert. Zugleich machten die beiden Gäste klar, dass Streit zur Debatte gehört: „Dialog heißt auch, nicht zu einem Konsens zu kommen“, sagte Cheema. Stattdessen bedeute Dialog „Empathie zu entwickeln“, aber: „Empathie heißt nicht Sympathie.“ Diesen Worten am Ende der rund 90 Minuten langen Veranstaltung war ein differenzierter, aber auch humorvoller Blick auf das interkulturelle Leben in Deutschland vorausgegangen.

Ehemann Mendel ist Professor für Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Science und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Aufgewachsen ist er in Israel und erst im Studium nach Deutschland gekommen. Mendel bezeichnet sich daher als „erste Generation der Migration“, weshalb er vor allem Dankbarkeit verspüre, aufgenommen worden zu sein. Seine in Frankfurt geborene Frau Cheema sei als Tochter pakistanischer Einwanderer hingegen die „zweite Generation“. Die Frage, woher man komme, habe daher für ihn eine andere Bedeutung als für Cheema, sagte Mendel. Migranten der zweiten Generation bekämen in Deutschland häufig zu spüren, dass sie nicht dazugehörten.

Wenngleich das Ehepaar viel über gesellschaftliche Konflikte sprach, verzichtete es auf Schuldzuweisungen. Stattdessen erzählten die beiden lieber Anekdoten aus ihrem eigenen Leben als Eltern eines ein Jahr alten und eines vier Jahre alten Kindes. Wenn aus der „Synagoge“ in der Kindessprache die „Synagurke“ wird, zeigt das, dass religiöse Konflikte in jungen Jahren noch keine Rolle spielen.

Wie Vorurteile im Kleinen sichtbar werden

Zugleich machte das Ehepaar darauf aufmerksam, dass es in Deutschland nicht die Möglichkeit einer doppelten Religionszugehörigkeit gebe. Allerdings wollten die beiden nicht nur den Staat dafür verantwortlich machen. Denn aus Sicht beider Orthodoxien ist ihr Sohn weder jüdisch noch muslimisch. Das jüdische Religionsgesetz, die Halacha, legt fest, dass das Jüdischsein über die Mutter, das islamische Gesetz regelt, dass das Muslimsein nur vom Vater weitergegeben wird. So las es Mendel aus einer Kolumne vor, die er und seine muslimische Frau vor vier Jahren in der FAZ veröffentlicht hatten. Überhaupt ging es an diesem Abend viel um Religion und damit vor allem um: Konflikte.

Cheema sagte, dass Glaube für sie in erster Linie „Toleranz“ bedeute. Sie selbst sei religiös von ihren Eltern erzogen worden. Als Cheema ihrer muslimischen Familie aber von ihrem jüdischen Freund aus Israel erzählte, hatte die bis dahin verbreitete Toleranz ihr zufolge eine „klare Grenze“. Cheema erzählte, dass ihre Mutter mit Blick auf die neue Beziehung von einem „Scherz“ und einer „Phase“ gesprochen habe. Eine Freundin der Mutter wollte diese dann beruhigen, ihr die Bedenken vor dem jüdischen Freund nehmen: „Deine Tochter wird nie finanzielle Sorgen haben“, soll sie gesagt haben. Bisweilen klingen solche Anekdoten über vermeintlich jüdischen Reichtum amüsant, das Publikum lacht. Geschichten wie diese über Vorurteile dürften aber in vielen jüdischen oder muslimischen Familien in Deutschland Realität sein.

Die Politologin Cheema, die die Bundesregierung in Fragen der Islamfeindlichkeit berät, zitierte Studien, um ihre persönliche Erfahrung zu untermauern. Nach Angaben der Expertin lehnen etwa Zweidrittel der Befragten interreligiöse Ehen ab – und das auf jüdischer und muslimischer Seite gleichermaßen. Mit der Toleranz ist es also schnell vorbei, sobald die andere Kultur in die eigene Familie stößt.

Warum Vertrauen neu aufgebaut werden muss

Dazu kam, dass Cheema verdeutlichte, wie tief das Misstrauen auf der jeweiligen Seite schon jetzt ist. Seit Jahren sind die beiden im muslimisch-jüdischen Dialog engagiert, nach dem 7. Oktober sei ihr klargeworden: „Der Dialog ist komplett zerbrochen.“ Im pakistanischen Fernsehen wurde Cheema zufolge das Massaker der Hamas vom 7. Oktober bejubelt. Zudem gab die Politikwissenschaftlerin zu bedenken, dass es in Deutschland „in Teilen der muslimischen Community“ und „in großen Teilen der Linken“ Personen gegeben habe, die „gleichgültig“ auf das Massaker“ reagiert hätten. Nach Worten von Cheema sind Sätze gefallen wie: „So sieht eben Widerstand aus.“

Die Abneigung gegenüber der jeweils anderen Seite hat das Ehepaar schon selbst zu spüren bekommen. Die jüdische Gemeinde in Karlsruhe habe ihn wegen einer vermeintlich zu „pro-palästinensischen“ Position ausgeladen, erzählte Mendel. Die muslimische Gemeinde in Hamburg habe wiederum wegen einer vermeintlich „pro-zyonistischen“ Haltung seinen Auftritt abgelehnt. Die Abneigung gegenüber der anderen Seite scheint in Deutschland also immer noch weit verbreitet, wenn bisweilen sogar Gemeinden den Dialog scheuen.

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Eine mögliche Erklärung: Der 7. Oktober sei für Juden und Palästinenser eine „Zäsur“ gewesen, äußerte Cheema. Für die einen sei es der „tiefste Schock und die dramatischste Erfahrung seit dem Holocaust“ gewesen, für die anderen wurzele darin die heutige „humanitäre Katastrophe, Vertreibung und Zerstörung“. Cheema sagte daher: „Wir wünschen uns, dass in der deutschen Öffentlichkeit Raum dafür ist, aller Opfer gleichermaßen zu gedenken, ohne das Leid der einen oder anderen Seite in Frage zu stellen.“ Wenngleich es die wohl emotionalsten Worte des Abends waren, die viele Zuhörer berührten, werden sie wohl kaum dazu führen, dass es unmittelbar zu mehr interkulturellem Verständnis kommt.

Zwar waren etwa 300 Zuhörer in AKG zu Gast, doch ein Blick in die Runde zeigte, dass nicht die ganze Religionsvielfalt Bensheims gekommen war. Dafür saßen Schüler, Lehrer und weitere Vertreter aus der Bildungsarbeit im Saal, die womöglich die Impulse des Abends in den nächsten Wochen aufnehmen und weitergeben könnten. Doch der Weg zu mehr interkultureller Toleranz, das wurde in diesen Minuten deutlich, ist noch lange nicht beendet.

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