Zeitreise

Das Kaiserreich: Ein Staat mit zwei Gesichtern

Am 18. Januar 1871 wird das deutsche Kaiserreich proklamiert. Nach Jahrhunderten der Zersplitterung entsteht in der Mitte Europas für fast fünf Jahrzehnte ein machtvolles Gebilde. Doch dieses bleibt auch 150 Jahre danach noch umstritten.

Von 
Konstantin Groß
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Maler Anton von Werner (1843-1915) verewigt die Kaiserproklamation von Versailles in mehreren Gemälden. Hier auf dem Podest vorne Wilhelm I., rechts von ihm Großherzog Friedrich von Baden, in der Mitte (in weißer Uniform) Otto von Bismarck. © Archiv

Was für Feiern! 200 Jahre Unabhängigkeitserklärung der USA vom 4. Juli 1776 und 200 Jahre Französische Revolution vom 14. Juli 1789 – jeweils ein ganzes Jahr lang gedenken 1976 bzw. 1989 diese beiden Demokratien dem Entstehen ihres jeweiligen Staates. Eine ähnliche Bedeutung für Deutschland besitzt die Gründung des Kaiserreiches vom 18. Januar 1871. Nach Jahrhunderten der Zersplitterung besteht in Deutschland nun ein Nationalstaat. Doch man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass am 18. Januar 2021 nicht groß gefeiert wird. Und das nicht nur wegen Corona.

Das mit Ende des Ersten Weltkrieges 1918 untergegangene Kaiserreich bleibt umstritten. Und das ist nicht nur eine Frage von Historikern und Intellektuellen. Wie man das Kaiserreich beurteilt, das hat aktuelle politische Bedeutung; die „Querdenker“, die im vergangenen Jahr die Stufen des Reichstags stürmen, schwenken dabei die Reichsflaggen.

Rückblick: Im Gegensatz zu Frankreich und England kennen die Deutschen lange keinen gemeinsamen Staat. Seit dem Mittelalter gibt es zwar das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“, doch dies ist ein Staatenbund aus Territorien mit eigener Staatlichkeit: Bayern, Preußen, viele andere. Der Kaiser, der gewählt wird, oft und zuletzt aus Österreich, ist eher Symbol der Einheit.

1806 Ende des ersten Reiches

Je länger dieses Konstrukt besteht, desto poröser wird es. Als der Franzosen-Kaiser Napoleon dagegen angeht, fällt es zusammen wie ein Kartenhaus. Ab 1806 gibt es keinen Kaiser mehr, kein Deutschland, nur noch viele deutsche Einzelstaaten.

Doch die Idee vom Einheitsstaat ist nicht tot, gewinnt eher an Bedeutung. Ein erster demokratischer Versuch scheitert 1849 an den Fürsten. Am Ende sind kurioserweise sie es, die diese Idee umsetzen – unter ihren Vorzeichen: machtpolitischen.

Allen voran Preußen und sein Ministerpräsident Otto von Bismarck. 1870 führt er sein Land in einen Krieg gegen Frankreich, das er geschickt als Aggressor aussehen lässt. Die süddeutschen Staaten, traditionell kritisch gegenüber Preußen, solidarisieren sich; so wird der Deutsch-Französische Krieg zum deutschen Einigungskrieg. Bismarck nutzt die patriotische Begeisterung, um einen deutschen Einheitsstaat ohne Österreich zu schaffen. Die süddeutschen Fürsten können sich der nationalen Aufwallung nicht entziehen.

Eine Schlüsselrolle spielt der König von Bayern. Ludwig II. will eigentlich keinen Einheitsstaat. Bismarck bietet dem klammen Schlösser-Bauherrn jedoch sechs Millionen Gulden – und entwirft auch gleich einen Brief, mit dem der Bayer den preußischen König bitten soll, die deutsche Kaiserkrone zu tragen.

Doch noch gibt es ein Problem. Wilhelm I. will den Titel „Kaiser von Deutschland“ – für die süddeutschen Staaten unannehmbar. Allenfalls ein Adjektiv („Deutscher Kaiser“) sind sie zu akzeptieren bereit.

Demütigung Frankreichs

So kommt es, und am 1. Januar 1871 ist das Deutsche Reich geschaffen. Doch es bedarf eines feierlichen Aktes. Für die Proklamation des neuen Kaisers wählt Bismarck das Schloss von Versailles, Symbol des Glanzes der französischen Könige – eine Demütigung der Nachbarn, die auf Generationen zur schweren Belastung für das gegenseitige Verhältnis wird.

Noch während der deutschen Belagerung von Paris versammelt Bismarck im nahen Versailles die deutschen Fürsten; Bayerns Ludwig lässt sich entschuldigen. Es ist an Großherzog Friedrich von Baden, das Hoch auf Wilhelm auszubringen. Das Gemälde zeigt Fürsten und Militärs – und damit neben der Gründung in einem besetzten Land den zweiten Geburtsfehler des Reiches: Es ist eine Gründung „von oben“.

Das Reich ist denn auch ein Bund aus 25 Einzelstaten, davon vier Königreiche und sechs Großherzogtümer, darunter Baden. Kaiser ist immer der König von Preußen, das ja zwei Drittel von Fläche und Bevölkerung des neuen Staates stellt. Doch die Fürsten der anderen Einzelstaaten, als „Zaunkönige“ verspottet, behalten ihre zuweilen liberaleren Systeme und ihre Souveränität in jenen Bereichen, die heute noch Ländersache sind: Polizei, Justiz, Schule.

Die Einigung und vor allem die Reparationen aus Frankreich setzen eine atemberaubende Dynamik frei. Deutschland wird zur führenden Industriemacht Europas. Deutsche Firmen erwerben Weltgeltung. Deutsche Technik und Wissenschaft werden prägend, zahlreiche Nobelpreisträger tragen deutsche Namen. In den Verwaltungen arbeitet eine qualifizierte Beamtenschaft.

Das Land verändert sich. Die bislang mittelalterlich oder barock geprägten Städte erhalten ein neues Gesicht. Verwaltungsgebäude, sogar Bahnhöfe und Wasserwerke, erinnern jetzt an Kathedralen; „Gründerzeit“ nennt sich dieser Baustil.

Der Fortschritt nutzt auch den Menschen. Hungersnöte wie noch Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es nicht mehr. Die Kindersterblichkeit sinkt, die Lebenserwartung steigt. Zwar ist die Lage vieler Arbeiter so trostlos, wie etwa die Bilder aus den Hinterhöfen von Berlin es überliefern; doch es entsteht auch eine Sozialversicherung, die modernste Europas. Bismarck baut sie auf, um der Vertretung der Arbeiter, der Sozialdemokratie, die Basis zu entziehen.

Janusköpfigkeit der Politik

Die SPD ist zwischen 1878 und 1890 verboten. Ihre Repräsentanten werden als „vaterlandslose Gesellen“ verfolgt, teils ausgewiesen – allerdings auf der Basis eines Gesetzes. Und ihre Abgeordneten genießen Immunität. Auch an den Reichstagswahlen darf die Partei weiter teilnehmen, wird 1912 sogar stärkste Fraktion im Reichstag. Das alles zeigt die Janusköpfigkeit dieses Systems.

Zudem gilt das gleiche und geheime Wahlrecht für alle Männer ab 25. „Das Kaiserreich hatte eines der modernsten Wahlrechte seiner Zeit“, betont die Historikerin Hedwig Richter. 23 Prozent der Bevölkerung sind wahlberechtigt, in Großbritannien, dem „Mutterland der Demokratie“, gerade mal 16 Prozent. Doch in vielen Einzelstaaten gilt weiterhin das ungerechte Drei-Klassen-Wahlrecht. So erringt die SPD bei den preußischen Landtagswahlen 1908 ein Viertel aller Stimmen, aber nur ganze sechs von 440 Sitzen.

Der Kaiser ernennt den Kanzler; den kann das Parlament weder wählen noch stürzen. Aber es hat das Budgetrecht, kann ihm den Geldhahn zudrehen und Gesetze ablehnen. Das Kaiserreich ist keine Diktatur, vielmehr auf dem Weg zu einem modernen Rechtsstaat. Ungeahndete Lynchmorde, wie zur gleichen Zeit in den USA an Schwarzen verübt, sind im Kaiserreich undenkbar.

Allerdings: Neben sozialer Ungleichheit und Unterdrückung der Minderheiten herrscht auch ein Obrigkeitsdenken, das Heinrich Mann in seinem „Untertan“ gekonnt verewigt. Genüsslich erlebbar wird dies in der Verfilmung von 1951, als besagter Untertan Diederich Heßling neben dem Wagen des Kaisers herrennt, immerzu „Hurra“ brüllend.

Überhaupt: die unerträgliche Militarisierung der Gesellschaft! Sogar Professoren zählen nichts, sofern sie keine Reserveoffiziere sind. Nur wer Uniform trägt, gilt etwas. Entlarvend der Schuster Wilhelm Voigt, der 1906 in Hauptmanns-Uniform vom Trödler das Rathaus von Köpenick besetzt. „So etwas gibt es eben nur in Preußen“, lacht sogar Wilhelm II.

Ein Ruhmesblatt? Doch eher nicht. Die Pickelhaube wird Symbol des Reiches, das der Welt mit seiner Außen- und Rüstungspolitik Angst einflößt. Zum Schicksal wird ihm der Erste Weltkrieg, 1918 der Kaiser gestürzt, Deutschland zur Republik, auch wenn sie sich nicht so nennt: Sie heißt weiter „Deutsches Reich“ – was schon viel aussagt. Die Nazis sehen sich übrigens als „Drittes Reich“ – nach dem mittelalterlichen ersten und dem kaiserlichen zweiten.

Das macht das Kaiserreich vielen nach 1945 nicht gerade sympathischer. Lange gilt es daher als mentaler Vorläufer des NS-Systems. Die Haltung der Deutschen zum Nationalsozialismus können sich viele nur mit den Prägungen aus dem Kaiserreich erklären. 100 Jahre Deutsches Kaiserreich, so bringt es Bundespräsident Gustav Heinemann (SPD) 1971 auf den Punkt, „das heißt eben auch Auschwitz und Stalingrad.“

Differenziertere Sichtweisen

Seit einigen Jahren wird dieses Bild in der Geschichtsschreibung differenzierter; es sei historisch nicht gerecht, das Kaiserreich von seinem ruhmlosen Ende her zu beurteilen. Die Chance zu einem positiven Verlauf sei in dieser Zeit durchaus angelegt, heißt es unter Hinweis auf die starken demokratischen Kräfte: Liberale, Zentrum, vor allem die SPD.

Was etwa, wenn Friedrich III., der als Anhänger liberaler Ideen gilt und 1888 seinem Vater Wilhelm I. auf den Thron folgt, nicht an Krebs erkrankt und schon nach 99 Tagen Amtszeit gestorben wäre? Nennt Friedrich Nietzsche das nicht „ein entscheidendes Unglück für Deutschland“?

Die Kritiker dieser Sichtweise führen ein schlagendes Argument ins Feld: wäre, hätte, Fahrradkette. „Ein weichgezeichnetes Bild des Kaiserreichs ist Teil einer neonationalistischen Agenda“, beklagt Historiker Eckart Conze, Autor eines aktuellen Buches über das Kaiserreich: „Der Autoritarismus des Kaiserreiches wird ebenso kleingeredet wie der aggressive Militarismus.“

Anders als in den USA 1776 oder in Frankreich 1789 ist das Werden des deutschen Staates 1871 eben nicht mit Freiheit und Menschenrechten verbunden. Die ändert sich 1949: mit unserem Grundgesetz.

Mannheim im Kaiserreich

Vom „amerikanischen Wachstum“ Mannheims im Kaiserreich sprechen schon die Zeitgenossen. Nach der Annexion Elsaß-Lothringens 1871 ist die Quadratestadt nicht mehr Grenzregion. Wie kaum eine andere deutsche Großstadt kann sie nun ihre Dynamik entfalten. Zu einem der Motoren wird der Hafen.

Die Zahl der Einwohner steigt von 40 000 (1871) auf mehr als 200 000 (1914). Durch Eingemeindungen umliegender Orte vergrößert sich die Gemarkung von 2400 auf 10 600 Hektar. Hinzu kommen Käfertal 1897, Neckarau 1899, Feudenheim 1910, Sandhofen und Rheinau 1913.

In der Innenstadt überspringt die Bebauung den Ring (Oststadt) und den Neckar (Neckarstadt). Das Stadtbild, bislang vor allem barock geprägt (Schloss, Jesuitenkirche, Marktplatzkirche mit Rathaus), verändert sich im Gründerzeit-Stil.

Zahlreiche Neubauten zeugen von dieser Entwicklung: 1867 Rheinbrücke (heute dort: Konrad-Adenauer-Brücke), 1876 Hauptbahnhof, 1889 Wasserturm und Friedrichsplatz, 1891 Friedrichsbrücke (heute dort: Kurpfalzbrücke), 1902 Börse E 4, 1903 Rosengarten, 1906 Kunsthalle, 1910 Umbau Altes Kaufhaus N 1 zum Rathaus, 1911 Christuskirche, 1912 Feuerwache, 1913 Palais Lanz.

Prägende Persönlichkeiten jener Jahre sind Otto Beck als Oberbürgermeister (1891-1908) sowie die Reichstagsabgeordneten Ernst Bassermann (Nationalliberale Partei) und Ludwig Frank (SPD).

Literatur: Grundlegend: „Mannheim im Kaiserreich“, 220 Seiten, 1988 herausgegeben vom Stadtarchiv Mannheim; zum Kaiserreich allgemein gerade erschienen: Eckart Conze: „Schatten des Kaiserreichs“, 278 Seiten, dtv, 22 Euro. -tin

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