Mit einem alten Transporter neun Monate quer durch Europa

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Der Sprung ins neue Leben fühlt sich für Paul Haastert zunächst kalt und salzig an. Mehrere Hundert Kilometer hat er hinter sich gebracht, als er erstmals ein Gefühl von Freiheit verspürt. Es ist die Corona-Zeit, die den jungen Studenten im Jahr 2020 etwas mürbe macht. Zwischen Online-Studium und geschlossenen Bars ist nicht mehr viel Platz für das normale Studenten-Dasein. Pizza und Netflix stehen damals auf der Tagesordnung – und ansonsten viel Leere. Ausgangssperre.

„Das Leben fühlte sich starr und eintönig an“, sagt Haastert in der Rückschau auf diese bleierne Zeit. Er beschließt, die Uni in München vorerst zu verlassen – und mit einem selbst zu einem Camper-Van umgebauten Transporter Europa zu erkunden. Fortan speichert er Bilder in seinem Kopf, an die er sich in einigen Jahren wohl deutlicher erinnert als an die fünfte Online-Vorlesung an irgendeinem Corona-Mittwoch. Zum Beispiel an jene Momentaufnahme, als er seinen Camper in Polen hinter einer Düne an der Ostsee abstellt und im Sonnenuntergang zu Abend isst. Oder in Schweden, wo er durch dichte Wälder fährt, bis er Norwegen erreicht. Berge und Schnee, Steilküsten und Seen – der junge Mann saugt das alles auf wie ein ausgetrockneter Schwamm.

Der Tour voraus geht eine nicht ganz einfache Suche nach dem richtigen Gefährt – zumal studentisches Budget per se knapp ist. Ebay und Auto-Scout helfen da nur bedingt. Der jetzt 21-Jährige, der bis dahin Umweltingenieurwesen studiert, findet einen alten Handwerker-Bus – einen Ford Transit, den er auf den Namen Toni tauft, und den er mit seinen eigenen Händen einigermaßen Abenteuer-tauglich umgestaltet.

Polarlichter weisen den Weg

Hinten ein ausziehbares Bett mit Stauraum darunter, vorne eine kleine Sitzecke und die Eck-Küche. Dann noch ein Loch ins Dach für Lüftung und Fenster. Nicht zu vergessen die Solarpaneele für ein wenig Strom – fertig ist die Laube. Eine Probefahrt in der Region führt ihn an einen kleinen Baggersee im Licht der untergehenden Sonne. Vorüber sind stundenlanges Fluchen beim Bohren von Löchern und beim Einbau des Bettgestells in die Übergangsbehausung – Fernweh wächst. Die Holzverkleidung lässt seinen Toni nun ganz gemütlich wirken. Fast wie eine kleine Berghütte auf Rädern. Nach gut zwei Monaten steht ein „fertiges“ Reisemobil auf dem Bürgersteig in der Weinheimer Beethovenstraße. Nichts ist perfekt, aber alles funktioniert doch irgendwie. Haastert packt Kleidung, Bücher, Kameras und Gitarren ein – und dann geht es los.

Das Nordkap ist eigentlich nie das Ziel gewesen, aber oben angekommen, scheint es auf einmal so, als ob dieser Plan schon immer bestanden hätte. Die steilen Klippen wirken auf ihn wie das Ende der Welt. Große Gefühle, kleiner Mensch.

Etwa 5400 Kilometer hat er jetzt hinter sich gebracht. Er entscheidet sich für den Rückweg über die Lofoten. Auf der kleinen Inselgruppe im Westen Norwegens begleiten ihn über einige Tage nachts Polarlichter am Himmel. Die bunten Farben, die sich über den ganzen Horizont erstrecken, sind für ihn nicht nur ein faszinierendes Fotomotiv, sondern sie stehen auch ganz oben auf der Liste der Erfahrungen, die der Weinheimer unbedingt machen wollte. Dass sie ihm beim nächtlichen Gang zum Pinkeln den Weg weisen, ist nur ein kleiner, willkommener Nebenaspekt.

Aber: Gänzlich vor Corona fliehen kann Haastert auch in der Abgeschiedenheit der skandinavischen Weite nicht. Überall herrscht Maskenpflicht – und Restaurants sind auch dort zu dieser Zeit meist geschlossen oder bieten nur Plätze im Freien an. Selbst die Rentierfarmer mitten im Nirgendwo tragen Masken – ihre Kinder sind vorübergehend aus den Städten aufs Land zurückgekehrt.

Gestrandet auf der Rentierfarm

Dass er auf der Rentierfarm überhaupt für einige Tage strandet, hat mit Toni zu tun. Eines morgens springt seine Berghütte auf Rädern nicht mehr an. Es ist kalt draußen, und es stürmt. Der Wassertank ist eingefroren. Für den Morgenkaffee muss er Schnee schmelzen. Der ADAC ist hier so weit entfernt wie ein bezahlbares Bier. Haastert läuft los und landet nach einer längeren Wanderung bei jenen zwei Rentierfarmern an, die ihm später nicht nur helfen, den Bus zu reparieren, sondern ihm auch Unterschlupf gewähren. Im Gegenzug hilft er beim Zusammentreiben der Rentiere. Sie werden mit kleinen blauen Stempeln im Ohr markiert. Eine anstrengende Arbeit, an die ihn in den folgenden Tagen noch einige blaue Flecken erinnern.

Frisch geduscht und mit ein paar Geweihen im Gepäck geht es jetzt weiter Richtung Süden, nach Trondheim und Oslo und schließlich nach Kopenhagen, wo ihn wieder Sonnenschein und ein erschwingliches Bier erwarten. Drei Monate sind vorbei, die ihn in den Norden geführt haben. Anschließend reist Haastert weiter Richtung Portugal und Spanien, wo er weitere sechs Monate verbringt.

Der kleine Transit ist für ihn in dieser Zeit zu einer kleinen, fahrenden Insel geworden. Den Luxus von Toilette, Dusche und Heizung hat er im Lockdown gegen ein klein wenig Freiheit eingetauscht.

Und was seine Zukunft anbelangt, so hat Paul Haastert sich jetzt für ein anderes Berufsziel entschieden: An der Uni in Mannheim studiert er nun Medien- und Kommunikationswissenschaften. Toni hat er zum erneuten Studienstart verkauft – mit Gewinn.

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