Jürgen Bieler ist ehrlich: Nach 21 Jahren möchte er auch mal einen freien Abend und ein freies Wochenende haben, sagt er. Der 52-Jährige, der in den vergangenen zwei Jahrzehnten die „Brennessel“ in Hemsbach zu einem der erfolgreichsten Programmkinos der Region geführt hat, hört auf.
Während in den beiden Kinosälen „Der Buchladen der Florence Green“ und „Tanz ins Leben“ laufen, hat sich davor im historisch anmutenden Foyer des Kinos mit seinen Holzdielen und dem kleinen Kartenhäuschen das knappe Dutzend Mitarbeiter versammelt, um den scheidenden Chef mit einem Gläschen Perlwein zu verabschieden und einen Toast auf den neuen Inhaber auszusprechen: Alfred Speiser, Betreiber des Modernen Kinos in Weinheim, wird ab 1. Juli hier die Regie übernehmen.
So wenig wie möglich verändern
Der Weinheimer Kinochef plant, einen niedrigen sechsstelligen Betrag in das Kino zu stecken, um unter anderem Sitzkomfort und Akustik zu verbessern, will das Drehbuch für den erfolgreichen Brennessel-Film aber nicht umschreiben: „Ich werde hier so wenig wie möglich verändern“, sagt er und fügt hinzu: „Wir machen weiter Programmkino.“ Die Region brauche kein weiteres Mainstream- und Actionkino, sagt Speiser und freut sich über die Neuerwerbung: „Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein erfolgreiches Kino übernehme.“
Lange nachgedacht hat er nicht. Als „der Jürgen“ im Dezember mal vorfühlte und Speiser auf einen Kaffee an den langen Holztisch in die Brennessel einlud, wurden sich die Kinobetreiber schnell handelseinig. Die beiden kleineren Häuser in der Weinheimer Region in eine Hand zu legen, sei naheliegend, sagt Speiser, der sich viele Synergieeffekte davon verspricht: So könnten Filme nacheinander an beiden Standorten laufen und damit optimal genutzt werden, ohne dass eine Konkurrenzsituation entstehe, sagt er. Vorteile bringe die Übernahme auch den Kinogängern. Beispielsweise soll die Stempelkarte des Modernen Theaters in Weinheim künftig auch in Hemsbach gelten.
Bessere Leinwände
Speiser will den historischen Charme der Brennessel erhalten, gleichwohl deren Komfort und Technik verbessern. So werden beide Kinosäle sogenannte Lochleinwände erhalten. Die feinen Löcher sind für den Betrachter natürlich nicht wahrnehmbar, erlauben aber, Lautsprecher hinter die Leinwände zu setzen und damit die Akustik zu verbessern.
Sichtbare Eingriffe wird es bei der Bestuhlung geben. Die Empore in Kinosaal eins soll zum VIP-Bereich aufgewertet werden. Aus heute drei Reihen werden zwei, die dann kleine Tischchen erhalten. Ferner sollen die Doppelsitze aufgepolstert werden. Auch die hintere Reihe im Kinosaal zwei wird entsprechend umgestaltet. Dort sollen die übrigen Sitze so miteinander verbunden werden, dass sie künftig nicht mehr knarren, verspricht Speiser. Und: Bislang erfolgt im Kinosaal eins über die vermeintlich beste Sitzposition in der Mitte der Leinwand der Zugang zu den Sitzreihen. Künftig werden im großen Kinosaal die Sitze in einer Reihe angeordnet und von den Seiten erschlossen.
Das Foyer des Kinos will Speiser weitgehend erhalten. An der Wand links vom Eingang zum Kino eins wird er aber ähnlich wie im Modernen Theater in Weinheim eine neue Theke einbauen, an der es künftig Kinokarten gibt sowie Essen und Trinken ausgegeben wird. Auch bei der Versorgung gibt es Veränderungen. Die Gäste der Brennessel können künftig Bier der Weinheimer Hausbrauerei trinken, oder einen Roten und einen Weißen aus dem Piemont kosten; ferner will Speiser kleinere Speisen anbieten.
Die Eintrittspreise will er nicht antasten. Einzige Ausnahme: Der VIP-Bereich wird künftig einen Euro mehr kosten. Dafür können sich Schüler, Auszubildende und Studenten darauf freuen, auch am Wochenende zu ermäßigtem Eintrittspreis einen Film in der Brennessel anzuschauen. Speisers Vorgänger gewährte dieses Vorrecht nur unter der Woche.
Über die Brennessel-Leinwände werden auch künftig Arthaus-Filme und gehobener Mainstream flimmern. Zudem will Speiser unter der Überschrift „Plattform“ von Zeit zu Zeit regionalen Kleinkünstlern oder Regisseuren eine Auftrittmöglichkeit geben. Die bewährte Zusammenarbeit mit dem Stadtseniorenrat und der Stadt Hemsbach mit der „Lichtspiele“-Reihe bleibt erhalten. Zweimal die Woche sollen Filme in Originalsprache laufen. Am Wochenende werden Kinderfilme gezeigt.
Früherer Beginn
Schließlich wird das Programmschema leicht verändert. Der erste Film wird künftig bereits um 18 Uhr anlaufen (statt bisher 18.45 bis 19 Uhr), der zweite Film beginnt um 20.30 Uhr (statt 21 Uhr). Speiser folgt dabei einem Trend, der sich seit Langem abzeichnet: Das Publikum wird älter und möchte lieber früher wieder zu Hause sein.
Und was macht Jürgen Bieler? Der scheidende Kinochef hat noch keinen konkreten Plan. Vielleicht werde er in seinen früheren Beruf zurückkehren, sagt er. Einst machte er eine Ausbildung als Feinblechner, bevor er noch einmal die Schulbank drückte, sein Abitur ablegte und Lehramt studierte. Der Schuldienst musste ohne Bieler auskommen, denn der hatte über Aushilfsarbeiten im Kino Blut geleckt und übernahm noch vor dem Examen das Brennessel-Kino.
So ganz hat ihn das noch nicht losgelassen. Dem „Alfred“ wolle er zumindest bei der Zusammenstellung der Unterlagen helfen, die für die begehrten Kinopreise alljährlich eingereicht werden müssen. Dafür hat Bieler ein Händchen, gehörte er doch fast jedes Jahr zu den Preisträgern. Aus den einstigen Konkurrenten sind offensichtlich „ziemlich beste Freunde“ geworden.
Einer der ältesten Kino-Standorte in der Region
Die „Brennessel“ steht an einem alten Kino-Standort. 1927 wurden hier die ersten Filme der Union Lichtspiele gezeigt.
Der Urgroßvater von Frank Grünewald, der mit seiner Frau Hilde über dem Kino wohnt, legte den Grundstein für den Kinostandort an der Landstraße in Hemsbach.
Nach dem Zweiten Weltkrieg betrieb Grünewalds Vater das Kino.
Filme wurden am Wochenende gezeigt; auch die Gaststätte nebenan wurde von der Familie betrieben.
Als Grünewalds Vater starb, vermietete er im Auftrag seiner heute 94 Jahre alten Mutter 1982 das Kino an „junge Leute“, die Programmkino machen wollten – die Geburtsstunde des heutigen Brennessel-Kinos.
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