Fast scheint es, als hätte sich Mark Graham etwas Mut antrinken müssen. Mit einem fast leergetrunkenen Pint of Bitter in der Hand verlässt er das "King's Arms Pub" am Ufer des Ouse River im ostenglischen York. Draußen warten rund vier Dutzend Menschen gebannt auf den Mann mit stahlblauen Augen. Ganz in Schwarz gekleidet, mit schwarzem, knielangem Mantel und Lederhandschuhen, führt er die Menschenmenge direkt ans Ufer des Flusses. Mit sonorer Stimme bereitet er auf das kommende Abenteuer in den Straßen und Gassen des abendlichen York vor.
Wie bestellt sorgen Nieselregen und aufheulende Winde für die passende Atmosphäre zur Geistertour, während der Mond ab und an hinter dunklen Wolken hervorblitzt. "Alle Geschichten, die ich heute erzähle, sind absolut wahr. Einige sogar noch wahrer", flüstert der 57-Jährige. Im nächsten Moment deutet er auf die spärlich beleuchtete Brücke über den Ouse. Hier seien, so Graham weiter, in längst vergangenen Jahrhunderten die Köpfe von Delinquenten zur Abschreckung auf Speeren aufgespießt und aufgestellt worden. Dort blieben sie solange, bis die Vögel die Schädel bis auf die Knochen abgepickt hatten. Und nicht selten seien Leute, die unter der Brücke hergingen, von herumfliegenden Augäpfeln getroffen worden.
Diebstahl, Mord und Folter
Auf den Spuren blutrünstiger Verbrechen wandelt sich das gemütliche Gesicht der historischen Altstadt von York in eine bisweilen grausige Fratze. Der Besuch von Orten des Diebstahls, Mordes, der Folter und der Hexenverbrennung lassen das Lächeln gefrieren. Gänsehaut und Schaudern begleiten die Zeitreise in die mysteriöse Vergangenheit Yorks.
Von dem Charme und der Atmosphäre, die die von den Römern gegründete 180 000-Seelen-Gemeinde mit dem prächtigen Münster und der liebevoll restaurierten Stadtmauer tagsüber versprüht, ist in den schwach beleuchteten Straßen und engen, gepflasterten Gassen, in denen die Schritte laut widerhallen, plötzlich nichts mehr zu spüren. Graham deutet auf die andere Seite des Flusses, auf der das Pub "Cork and Bottle" liegt. Dort soll ein liebestoller Geist mit langem, wallendem Haar sein Unwesen treiben. Dieser habe, so versichert Graham, schon mehrfach Frauen, die sich nach dem Duschen abtrocknen wollten, mit eisiger Hand unsittlich berührt. Und auch im "Black Swan", dem ältesten Pub der Stadt, soll eine merkwürdige Gestalt in Form eines Würgegeistes seit Jahrhunderten aktiv sein. Graham beteuert mit breitem Grinsen: "Nicht selten brechen hier Leute nach durchzechter Nacht einfach so wie von Geisterhand berührt am Tresen zusammen."
Wahrer sollen, gemessen an Grahams verschmitztem Lächeln, die Erlebnisse des Klempnerlehrlings Harry Martindale sein. Dieser will 1953 während Bauarbeiten im Keller des prächtigen Münsters den Klang eines Horns vernommen haben. Plötzlich sei er vor Schreck fast von der Leiter gefallen, als erst ein Pferd durch die Wand geritten kam und dann eine Reihe von römischen Legionären in voller Montur an ihm vorbeimarschierte. Glauben wollte Martindale keiner. Alle waren sich sicher, der junge Bauarbeiter habe in bester Maurermanier schon frühmorgens einen im Tee gehabt. Doch als in den 1960er Jahren Restaurierungsarbeiten am Fundament des Gotteshauses durchgeführt wurden, stießen die Arbeiter auf eine alte Römerstraße unter dem Münster.
Schönste Straße Großbritanniens
In den Shambles, die sowohl als Großbritanniens schönste als auch die am meisten bespukte Straße gilt, floss früher das Blut in Strömen. Da, wo sich heute Kopfsteinpflaster seinen Weg zwischen den windschiefen, eng zusammenstehenden Fachwerkhäusern bahnt, ließen früher die Metzger ihre geschlachteten Tiere ausbluten. "Hier hat auch so mancher Mensch sein Leben ausgehaucht", gibt Graham zu verstehen.
Hinter den Fassaden der ehrenwerten Häuser von York verbirgt sich noch so manches dunkle Kapitel aus der langen Geschichte der wohl schönsten Stadt in Yorkshire. Hier erblickte Guy Fawkes in dem Haus hinter dem nach ihm benannten Pub das Licht der Welt. Am 5. November 1605 hat eben dieser Fawkes versucht, das englische Parlament in London in die Luft zu sprengen. Er wurde erwischt und hingerichtet.
Derweil soll im Theatre Royal am St. Leonard's Place der Geist einer Nonne zu finden sein, die sich in einen Mann aus York verliebte und schwanger wurde. Als Strafe soll sie im Keller des Theaters eingemauert worden sein und seither vorzugsweise in den Logen des 1744 eröffneten Schauspielhauses umherspuken.
"Ich selber glaube natürlich nicht an Geister, nur an die Zauberkraft meines Stocks", verkündet Graham, als sich die Tour am York Minster dem Ende neigt. Den Stab zu berühren bringe Glück, sagt Yorks prominentester Geisterführer. Er habe einen Nachbarn gehabt, eine ganz traurige Gestalt. Dieser sei völlig verarmt gewesen. Aus Mitleid habe Graham immer mal mit dem Stock dezent an der Tür des Nachbarn gerieben. Und als dann die National Lottery 1994 erstmals ausgespielt wurde, sei eben dieser Nachbar zum Multimillionär geworden. Graham lächelt und fragt, ob jemand den Stab berühren möchte. Alle wollen.
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