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Goldener Löwe von Venedig für kämpferische Dokumentation

Eine Dokumentation über einen amerikanischen Pharmaskandal hat in Venedig bei den 79. Filmfestspielen den Goldenen Löwen gewonnen

Von 
Sascha Rettig
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Stolze Gewinnerin: Laura Poitras, Regisseurin aus den USA, hält den Goldenen Löwen für den besten Film für „All the Beauty and the Bloodshed“ während der Abschlusszeremonie der 79. Filmfestspiele von Venedig. © Domenico Stinellis/AP/dpa

Eigentlich war es Laura Poitras’ großer Moment. Als Jury-Präsidentin Julianne Moore bei den 79. Filmfestspielen von Venedig am Samstag den Gewinner des Goldenen Löwen bekanntgab, fiel schließlich der Titel ihres Films „All the Beauty and the Bloodshed“. Doch als die amerikanische Regisseurin mit der Auszeichnung auf der Bühne stand, stellte sie in ihrer Dankesrede die Frau ins Zentrum, um die es auch in ihrem Dokumentarfilm geht: Nan Goldin.

„Ich habe in meinem Leben viele mutige Menschen kennengelernt“, sagte Poitras, die 2015 den Oscar für ihre Doku „Citizenfour“ über Whistleblower Edward Snowden bekam. „Aber ich habe nie jemanden wie Nan getroffen, die sich entschlossen hatte, es mit der Sackler-Familie aufzunehmen, die rücksichtslos und verantwortlich für unzählige Tote ist.“ Ihr Film, der Überraschungsgewinner und die einzige Doku im Wettbewerb, zeigt dementsprechend Goldin als Aktivistin in ihrem David-gegen-Goliath-Kampf gegen die milliardenschwere US-Pharma-Dynastie. 

Zugleich Porträt einer Künstlerin

Die Sacklers, auch einflussreiche Kunstmäzene, werden für die große Opioidkrise in den USA mitverantwortlich gemacht. Ihr Unternehmen hat unter anderem das stark suchterzeugende Schmerzmittel Oxycodon auf den Markt gebracht, von dem auch Goldin abhängig wurde. Dieses Engagement ist aber nur eine Hälfte dieses spannenden Films, mit dem bereits zum dritten Mal hintereinander eine Regisseurin in Venedig triumphierte. Denn er ist zugleich auch ein Porträt der berühmten Künstlerin und Fotografin Goldin, die mit ihren Arbeiten seit den 70er Jahren unter anderem roh-dokumentarische, teils extrem intime Einblicke in die (LGBTQ-)Subkulturen gab.

Nicht nur beim Goldenen Löwen, auch bei den anderen wichtigen Preisen fiel die Wahl der Jury vor allem auf die Beiträge, die sich kämpferisch gaben und in denen sich auch gesellschaftliche, politische Ebenen eröffneten. Die Französin Alice Diop etwa erhielt für „Saint Omer“ den Großen Preis der Jury, ein Gerichtsdrama, das sich detailliert dem Fall einer Mutter widmete, die ihr Kind im Meer ertränkte.

Der Spezialpreis der Jury hingegen ging an „No Bears“ von Jafar Panahi. Der iranische Filmemacher thematisiert darin mit sich selbst in der Hauptrolle das Filmemachen trotz Arbeits- und Reiseverbots und damit seine eigene Situation, in der er sich während des Drehs noch befand. Vor wenigen Monaten wurde Panahi jedoch verhaftet und sitzt seitdem eine sechsjährige Haftstrafe wegen „Propaganda gegen das System“ ab. So wie auf dem roten Teppich wurde auch bei der Preisverleihung gegen die Inhaftierung protestiert.

Für den Wettbewerb waren die Entscheidungen allerdings nicht wirklich repräsentativ. So vielseitig, so hochkarätig, so spannend der Jahrgang über weite Strecken war: Ein Spiegel der aktuellen Situation der Welt mit Klimakrise, Konfliktherden und Kriegen vielerorts war er in den meisten Fällen nicht. Die Geschichten zogen sich vor allem zurück: ins Private, Intime und Zwischenmenschliche.

Viele erzählten von Freundschaften, Liebesbeziehungen und dem erschütterten Kreis der Kernfamilie - das aber eben in einer ganzen Bandbreite von Belastungsproben, was auch bei den weiteren Preisen zu sehen war. Für „Bones and All“, eine Mischung aus kannibalistischem Horror und romantischer Love-Story mit Taylor Russell und Timothée Chalamet, wurde Luca Guadagnino („Call Me By Your Name“) für die beste Regie ausgezeichnet.

Auch Blanchett geehrt

Cate Blanchett bekam den Copa Volpi als beste Darstellerin in Todd Fields in Deutschland gedrehtem „Tár“ als erste Dirigentin eines großen deutschen Orchesters. Mit Nina Hoss an ihrer Seite erlebt sie einen heftigen Karriereabsturz.

Ob die Auszeichnung ein Vorbote für den Oscar im nächsten Jahr ist? Colin Farrell hingegen wurde bester Darsteller für „The Banshees of Inisherin“. In der traurigen, schwarzen, sehr irischen Komödie erlebt Farrell, wie ihm Brendan Gleeson die Freundschaft kündigt - mit drastischen Konsequenzen. Es gehe darin, so der aus Los Angeles zugeschaltete Schauspieler, ums Lieben und Geliebtwerden, um das Bedürfnis nach Freundschaft und die Angst vor dem Tod. „Also so viele Dinge, die wir uns jeden Tag fragen.“

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