Fanal der Freiheit

Vor genau 70 Jahren kommt es in der DDR zum Volksaufstand, der jedoch noch am gleichen Tag niedergeschlagen wird. Nach einer Zeit des Vergessens wird die Bedeutung des 17. Juni 1953 für die deutsche Demokratiegeschichte jetzt neu erkannt

Von 
Konstantin Groß
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Viele unter Ihnen werden sich noch erinnern: Den ohnehin zahlreichen kirchlichen Feiertagen im Frühsommer ist einst ein weiterer staatlicher angefügt: der Tag der Deutschen Einheit am 17. Juni, angesichts der Witterung oft ideal für einen Familienausflug. Seit 1990 ist Schluss damit, als der Nationalfeiertag mit der Wiedervereinigung in den kühleren Oktober verlegt wird.

Damit gerät das, was am 17. Juni 1953 geschieht, zunächst noch stärker in Vergessenheit als zuvor bereits. Dabei ist dieser Tag eines der ja nicht zahlreichen historischen Daten, auf welche die Deutschen stolz sein können: eine „der großen revolutionären Erhebungen in Deutschland“, wie der Historiker und frühere Leiter der Berliner Stasi-Gedenkstätte, Hubertus Knabe, betont.

Das Gebäude, vor dem 1953 alles beginnt: das heutige Bundesfinanzministerium in Berlin

Bedeutung: Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 beginnt bereits einen Tag zuvor in Berlin – vor dem „Haus der Ministerien“ der DDR. Nicht nur an diesem Tag ist dieses Gebäude Ort und Spiegel deutscher Geschichte.

Lage: Berlin (Ost-Teil), Leipziger/Ecke Wilhelmstraße, 1961 bis 1989 direkt an der Mauer, daher 1965 auch Ort einer spektakulären Flucht der Familie Holzapfel mit einem Stahlseil vom Dach dieses Gebäudes über die Mauer.

Entstehung: Das Bauwerk wird in den Jahren 1935/36 als Reichsluftfahrtministerium errichtet, mit 2000 Räumen eines der größten Bürogebäude der Welt. Sitz von „Reichsmarschall“ Hermann Göring; er plant hier den Luftkrieg gegen europäische Großstädte: Warschau, Rotterdam, Coventry und viele mehr.

Nach 1945: Trotz seiner Bedeutung hat das Gebäude den Bombenkrieg nahezu unversehrt überstanden. 1947 wird es Sitz der Zivilverwaltung der sowjetischen Besatzungsmacht.

DDR-Zeit: Der hiesige Festsaal ist am 7. Oktober 1949 Ort der Proklamation der „Deutschen Demokratischen Republik“. Danach wird das Gebäude zum „Haus der Ministerien“ der DDR.

Kunst am Bau: 1950 entsteht ein Propaganda-Wandbild; Titel „Die Bedeutung des Friedens für die kulturelle Entwicklung der Menschheit“. Es ist nach wie vor unverändert vorhanden.

Nach der Wiedervereinigung: 1991 bis 1995 Sitz der Treuhand, seit 1999 des Bundesfinanzministeriums.

Denkmal zur Erinnerung an die hiesige große Protestversammlung vom 16. Juni 1953 und den Aufstand vom Tag darauf, 1998 eingeweiht. -tin

Die Vorgeschichte: 1949 wird die DDR gegründet, 1952 verschärft die diktatorisch herrschende SED ihren Kurs. Nunmehr soll „der Sozialismus planmäßig aufgebaut“ werden, nach dem Vorbild der Sowjetunion. Die bislang durchlässige Grenze zur Bundesrepublik wird befestigt, eine Armee aufgestellt, die Landwirtschaft kollektiviert, die Schwerindustrie ausgebaut. Um dies alles zu finanzieren, beschließt die Partei eine Normerhöhung für die Arbeiter um zehn Prozent – ab 30. Juni 1953 sollen sie also zehn Prozent mehr arbeiten bei gleichbleibendem Lohn.

Doch es kommt etwas dazwischen. Im März 1953 stirbt der sowjetische Diktator Stalin, in Moskau setzt innen- und außenpolitisches Tauwetter ein. Die Sowjets fordern auch die DDR auf, ihren Kurs zu mäßigen. Am 11. Juni nimmt die SED die meisten Beschlüsse von 1952 zurück – mit Ausnahme der Normerhöhung. Das sorgt für Empörung.

Arbeiter treten in den Streik

In den Tagen danach kommt es in den Betrieben zu erregten Diskussionen. Am Morgen des 16. Juni 1953 legen Bauarbeiter des Krankenhaus-Neubaus im Berliner Bezirk Friedrichshain und der Baustellen just in der Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee) die Arbeit nieder und formieren sich zu einem Demonstrationszug über den Alexanderplatz durch die Friedrich- und Leipziger Straße zum Haus der Ministerien, heute Bundesministerium der Finanzen. Hier wollen die Demonstranten, inzwischen mehrere tausend Menschen, die Parteioberen zur Rede stellen.

Doch weder SED-Chef Walter Ulbricht noch Ministerpräsident Otto Grotewohl sind vor Ort; sie haben sich ins Hauptquartier der sowjetischen Besatzungsstreitkräfte nach Berlin-Karlshorst in Sicherheit gebracht. Industrieminister Fritz Selbmann versucht, zur Menge zu sprechen. Doch als er die sattsam bekannten Phrasen wiederholt, wird er von Sprechchören unterbrochen.

Am Nachmittag teilt ein Lautsprecherwagen mit, die Regierung habe die Normerhöhungen zurückgenommen. Zu spät: Längst geht es nicht nur darum. Inzwischen werden „Freie Wahlen“ gefordert.

Für den Tag darauf, den 17. Juni, ergeht ein Aufruf zum Generalstreik, bekannt gemacht durch den West-Berliner Rundfunksender RIAS. Alleine in Ost-Berlin legen 36 000 Beschäftigte die Arbeit nieder. In 500 Orten kommt es zu Streiks, bis zu einer Million Menschen sind beteiligt. Parteibüros der SED und Behörden, Polizeistationen und Gefängnisse werden gestürmt, insgesamt 1400 politische Häftlinge befreit.

Das rüttelt an der Macht der SED, damit an der Herrschaft der Sowjetunion im Osten Deutschlands. So verhängt die sowjetische Militärregierung den Ausnahmezustand über 167 der 217 Stadt- und Landkreise. Panzer rollen durch die Straßen der Städte, insgesamt sind 20 000 sowjetische Soldaten und 300 Panzer im Einsatz. Fortan gilt Kriegsrecht. Es kommt zu Toten und Verletzten. Zudem fällen russische Standgerichte Todesurteile und vollstrecken sie umgehend durch Erschießen.

Insgesamt fordert der Aufstand mindestens 55 Menschenleben, darunter 34 Demonstranten und Passanten, die von DDR-Bewaffneten oder Sowjetsoldaten erschossen werden. Doch hinter diesen nackten Zahlen stehen tragische Schicksale: Als Folge des vom Leipziger Parteichef Paul Fröhlich erteilten Schießbefehls werden der 19-jährige Dieter Teich und die 64-jährige Rentnerin Elisabeth Bröcker erschossen. Und dann die Todesurteile. So etwa gegen den 42-jährigen Ernst Jennrich, Familienvater von vier Kindern. Das Todesurteil gegen ihn gilt als Justizmord, er wird 1991 posthum freigesprochen und rehabilitiert. Insgesamt 15 000 Menschen werden zu teils hohen Haftstrafen verurteilt.

Verantwortlich für die Unrechtsjustiz ist Hilde Benjamin, die sich dadurch den Ruf als „rote Guillotine“ erwirbt. Sie ist Nachfolgerin von Justizminister Max Fechner, der gegen eine harte Bestrafung der Protestierer eintritt. Wegen „versöhnerischen Verhaltens“ wird er am 14. Juli seines Postens enthoben, aus der Partei ausgeschlossen und selbst zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.

Vor allem jedoch hat der Aufstand langfristige politische Folgen für die weitere Entwicklung der DDR. Für die SED-Führung ist es eine traumatische Erfahrung, dass gerade die Arbeiter ihr das Vertrauen entziehen. Nach dem 17. Juni beginnt das umfassende Überwachungssystem der Stasi, wie man es später kennt, begründet in einem tiefen Misstrauen gegen die eigene Bevölkerung und der Angst vor Machtverlust. Noch im August des Wendejahres 1989 fragt Stasi-Chef Erich Mielke besorgt: Ist es wieder so weit wie am 17. Juni?

Parallel zur Überwachung erfolgt die Geschichtsklitterung. Bereits im Juli 1953 gibt Ministerpräsident Grotewohl die fortan unablässig wiederholte Sprachregelung vor, als er von einem „faschistischen Putschversuch“ spricht, gesteuert von westlichen Geheimdiensten und mehrheitlich getragen von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern. Für beides gibt es keinerlei belastbare Beweise.

Doch auch – heute gesamtdeutsch hochgelobte – Kulturschaffende machen sich diese Interpretation des Regimes zu eigen, allen voran Bert Brecht: „Für Faschisten darf es keine Gnade geben“. Erst später zeigt er sich kritischer, mit dem berühmten Gedicht „Die Lösung“.

Jahrzehntelanges Ritual

Und der Westen? Wie beim Mauerbau acht Jahre später, so denken die Westalliierten zu keinem Zeitpunkt daran, einzugreifen und den Aufständischen zu helfen. Ja, sie verhindern sogar, dass der Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Ernst Reuter, aus Wien, wo er sich gerade aufhält, schnell nach Hause fliegen kann, um dort auf einer Solidaritätskundgebung zu sprechen. „Damals ist einem die ganze deutsche Ohnmacht wieder bewusst geworden“, bekennt später der CSU-Chef Franz-Josef Strauß in seinen Memoiren.

Die ehrliche Betroffenheit vieler Deutscher um die Opfer mündet in ein politisches Bekenntnis. Am 4. August 1953 erklärt der Bundestag gegen die Stimmen der KPD-Abgeordneten – die gibt es damals noch – den 17. Juni als „Tag der Deutschen Einheit“ zum Nationalfeiertag.

Im Laufe der Jahre wird dieser zu einem „prekären Feiertag“, wie der Historiker Christoph Kleßmann formuliert: „Prekär, weil die Bevölkerung ins Grüne fuhr statt den Reden zu lauschen, die im Bundestag gehalten wurden.“ Diese werden zu einem hohlen Ritual, wirken in der Euphorie der Ostpolitik seit den 1970er Jahren wie aus der Zeit gefallen.

Aktuell wird der Tag plötzlich im Wendeherbst 1989. Viele fühlen sich an 1953 erinnert, verbunden mit der Angst vor einer gewaltsamen Niederschlagung wie damals. Als am 3. Oktober 1990 die Wiedervereinigung erfolgt, verliert der 17. Juni den Status als arbeitsfreier Nationalfeiertag – zugunsten des 3. Oktober.

Der 17. Juni gerät in Vergessenheit. Das ändert sich zum 50. Jahrestag 2003. Historiker und Politik widmen sich ihm intensiv – mit politischer Relevanz für die Diskussion um die Identität Ostdeutschlands. Denn gerade für sie kann der 17. Juni wirken – in positiver Weise.

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