Ein Stück Lebensart

Am 11. Juli 1899 entstand die „Italienische Autofabrik Turin“, in der Landessprache abgekürzt: Fiat. 125 Jahre später ist dieser Firmenname zwar in einem Fusionskonzern aufgegangen, doch als Marke immer noch da – auch dank eines Remake des legendären „500“

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Konstantin Groß
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Im Turiner Automuseum das berühmteste Fiat-Produkt: der Cinquecento. Zwischen 1957 und 1977 wurden von ihm 3,7 Millionen Exemplare verkauft. © Konstantin Groß

Der Start erfolgt in einem Café in Turin. Am 11. Juli 1899 treffen sich im „Burello“ neun Männer, alle begeistert von der Erfindung des Automobils. Sie gründen eine Firma, nennen diese großspurig „Italienische Autofabrik Turin“, italienisch „Fabbrica Italiana Automobili Torino“, abgekürzt Fiat. Eine Legende ist geboren.

Unter den Neun: der 33-jährige Giovanni Agnelli, Sohn eines reichen Grundbesitzers aus dem Piemont. Bereits ein Jahr später wird er Direktor von Fiat. Und bald gelingt es ihm, immer mehr Anteile seiner Mitstreiter zu erwerben. Seither sind die Firma Fiat und die Familie Agnelli eins.

Mehr erfahren: in den früheren Fiat-Hallen und im Automuseum von Turin

Fiat-Werk: Die Hallen, in denen von 1923 bis 1982 produziert wurde, liegen in Turin im Stadtteil Lingotto. Seit ihrem Umbau 1989 befindet sich hier ein Kultur- und Gewerbezentrum mit Konzerthalle, Multiplexkino, Fünf-Sterne-Hotel und Einkaufszentrum. Als architektonischer Akzent wurde auf das Dach ein Kubus platziert. Der an der Fassade eingemeißelte Schriftzug „Fiat“ blieb erhalten.

Auto-Museum: Es befindet sich unweit des Fiat-Werks am linken Ufer des Flusses Po (Straße Unita d’Italia).

Geschichte: Grundstock bildete die Privatsammlung des Autopioniers Carlo Biscaretti di Ruffia ab 1932. 1956 gewann er die Familie Agnelli, die Stadt Turin und den Verband der Italienischen Automobilindustrie für die Idee eines Museums. 1958 begannen nach den Plänen des Star-Architekten Amadeo Albertini die Arbeiten, die 1960 beendet waren. In den 2000er Jahren wurde das Haus für 33 Millionen Euro umgebaut. Die Ausstellungen gestaltete der Filmset-Designer François Confino.

Konzeption: Ungeachtet des Standortes Turin und dem naturgemäßen Schwerpunkt auf Fiat firmiert das Haus als Nationales Automuseum. Gezeigt werden auch klassische Exemplare ausländischer Marken.

Exponate: Mehr als 200 Fahrzeuge von 85 Herstellern aus 13 Ländern, u. a. Peugeot Typ 3 (1892), Citroen 11 CV (1934), Mercedes-Benz 500 K (1936), VW Käfer (1952), NSU Ro 80 (1966), Trabant 601 (1987).

Attraktion: Bereich zur Formel 1 mit zahlreichen historischen und zeitgenössischen Rennwagen (Ferrari etc.)

Infos: www.museoauto.com -tin

Doch auch wenn das Automuseum in Turin heute einen anderen Eindruck erweckt: Erfunden wird das Kfz in Deutschland, und so ist es denn auch Daimlers Phönix-Modell von 1898, das als Vorbild für Fiats erste Fahrzeuge dient. Die anfängliche Jahresproduktion ist bescheiden, 20 Fahrzeuge, noch 1903 134.

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Nicolas Friese
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Das ändert sich. Ab 1916 bis 1923 errichtet Fiat eine Fabrik im Turiner Stadtteil Lingotto, damals die modernste ihrer Zeit. Der Clou: Auf dem Dach des Gebäudes befindet sich ein Rundkurs von einem Kilometer Länge, der als Teststrecke dient. In den 1930er Jahren überspringt die Produktion die 20 000er Marke, mit dem „Topolino“ als Verkaufsschlager.

Seit 1922 regieren in Italien die Faschisten. Agnelli arrangiert sich mit Diktator Benito Mussolini, ab 1943 mit den deutschen Besatzern und schließlich den alliierten Befreiern. Agnellis gleichnamiger Enkel, zur besseren Unterscheidung Gianni genannt, personifiziert diese Flexibilität: Zunächst meldet er sich freiwillig zu den italienischen Einheiten an die deutsche Ostfront, kämpft danach in Tunesien gegen die Amerikaner, wechselt 1943 zu den Partisanen in den Widerstand.

Zu spät: 1944 wird Firmengründer Agnelli wegen Kollaboration mit den Faschisten und den Deutschen angeklagt, darf sogar das Werksgelände nicht mehr betreten. Doch schon bald wird die Beschlagnahme wieder rückgängig gemacht. Agnelli erlebt das nicht mehr: Er stirbt 1945 im Alter von 80 Jahren an Krebs.

Der Fiat 500 wird Symbol des Wirtschaftswunders in Italien

In den Nachkriegsjahren werden die Autos von Fiat Symbol des italienischen Wirtschaftswunders. Vor allem der 1957 eingeführte neue 500er – eine Erfolgsgeschichte beginnt, vergleichbar nur mit dem Käfer von VW in Deutschland: Bis 1977 werden 3,7 Millionen Fahrzeuge verkauft.

Der erste Cinquecento ist 2,97 Meter lang, 1,32 Meter breit, hat 13,5 PS und erreicht 85 Kilometer pro Stunde. Die Türen sind noch hinten angeschlagen, sogenannte Selbstmördertüren. Doch das ändert sich bald. Nicht dagegen der Choke, mit dem der Motor gestartet wird und einen Lärm macht wie ein Traktor.

Noch im gleichen Jahr wird ein stärkerer Motor mit 15 PS und für 90 Stundenkilometer präsentiert. 1958 kommt er in Deutschland auf den Markt – für 2990 D-Mark (ohne aufpreispflichtige Heizung), in heutiger Kaufkraft 8300 Euro. Und wird Kult.

Im Film „Theo gegen den Rest der Welt“ von 1980 verfolgt ein Fiat 500 R einen gestohlenen Lkw. Und in der gefühlt 100. Folge von „Mission Impossible“ liefern sich Tom Cruise und Hayley Atwell in einem Fiat 500 eine Verfolgungsjagd durch Rom.

Nach dem Krieg formiert sich die Firmenleitung neu. Der Sohn des Firmengründers starb 1935 beim Unfall mit seinem Wasserflugzeug. Unter den sieben Enkeln des Gründers wird Gianni auserkoren. Doch der hat zunächst wenig Interesse daran, tummelt sich lieber mit Gunter Sachs auf mondänen Partys oder mit Star Anita Ekberg auf seiner Jacht, der größten an der Cote d’Azur.

Zur Zäsur wird das Jahr 1952: Bei einem nächtlichen Autounfall in Monaco zertrümmert Gianni sein Auto – und sein Bein. Helfer verjagt der Schwerverletzte, um – ganz Gentleman – die Anonymität seiner unverletzt gebliebenen Begleiterin zu wahren. Fortan muss er, sich auf einen Stock stützend, humpeln, und er wird ruhiger: 1953 heiratet er die Tochter eines neapolitanischen Fürsten, übernimmt 1966 den Chefsessel bei Fiat, mit 137 000 Beschäftigten und 1,34 Millionen jährlich produzierten Autos die Nummer 1 in Europa und auf Rang 5 in der Welt.

Unter Gianni Agnelli entwickelt sich Fiat zu einem Konzern, der neben Pkw auch Lkw und Schiffsmotoren, Flugzeuge und Züge im Programm hat; von Fiat stammt etwa jene Neigetechnik, die unter anderem im ICE Verwendung findet.

Andere Marken werden hinzu gekauft, 1966 Ferrari, 1969 Lancia, am Ende ein Geflecht von mehr als 500 Firmen und Beteiligungen. Darunter auch – noch heute zu 63,4 Prozent – der Fußballclub Juventus Turin.

Bis Mitte der 1970er Jahre ist Fiat neben VW der größte Automobilkonzern Europas und in Italien Teil der nationalen Identität – mit politischem Einfluss. Neue Modelle wie Panda und Uno werden vom Ministerpräsidenten höchstpersönlich vorgestellt und von Priestern gesegnet. „99 Prozent der Italiener kennen den Papst, aber 100 Prozent kennen Agnelli“, lautet ein Bonmot. Die Löhne hier sind höher als anderswo, die sozialen Leistungen üppiger, die Arbeitsplätze sicherer als sonst in dem inflationsgeschwächten Land. In einem Staat, der stets am Abgrund taumelt, wirkt diese Firma wie ein Anker der Stabilität, ihre Eigentümerfamilie erfüllt das Bedürfnis nach Glamour wie in Amerika die Kennedys.

Doch ab den 1980er Jahren gerät der Konzern in Turbulenzen. Einige neue Modelle erweisen sich als Fehlgriffe. In den 1990er Jahren sackt der Marktanteil von Fiat in Europa um ein Drittel ab, auf unter neun Prozent, ja sogar auf dem heimischen Markt von 50 auf 35 Prozent.

Im Jahr 2000 wird der Eisenbahnsektor an Alstom verkauft, General Motors erwirbt 20 Prozent von Fiat und für den Rest eine Kaufoption. Die Agnellis, die einst 70 Prozent der Aktien kontrollieren, halten nur noch 30 Prozent. „Die Einheit von Firma und Familie zerbricht“, konstatiert der „Spiegel“ 2002: „Die ökonomischen Bedingungen werden von globalen Kapitalströmen dominiert, die optimale Renditen suchen und nicht in Träume investieren.“

Der Firmenpatriarch stirbt inmitten der größten Krise

In dieser Situation stirbt der Patriarch 2003 – mit einem Vakuum an der Firmenspitze. Sein einziger Sohn Edoardo ist tot, zeigte jedoch bereits zuvor wenig Interesse an der Firma. Statt Wirtschaft studierte er Philosophie, wandte sich zunächst dem Buddhismus zu, trat dann zum Islam über, engagierte sich gegen Kernkraftwerke und gegen den Kapitalismus, was ihn nicht hinderte, das Leben zu genießen und in Kenia wegen Drogenbesitzes geschnappt zu werden. Im Jahre 2000 stürzt er sich, 46-jährig, von einer Autobahnbrücke.

So erhob Gianni 1997 seinen Neffen Giovanni Alberto zum potenziellen Nachfolger; doch der stirbt bereits kurz darauf, 33-jährig, an Krebs.

2003 wird dessen Vater und Giannis jüngerer Bruder Umberto, den der Patriarch wegen Meinungsunterschieden über die Firmenpolitik eigentlich nicht vorgesehen hatte, doch noch sein Nachfolger – und Erbe eines Schuldenberges. Der stete Umberto leitet ein solides Sanierungsprogramm ein, zu dem die Familie 750 Millionen Euro beiträgt. Als er nur ein Jahr später mit 69 an Krebs stirbt, ist der Turnaround geschafft.

2006 wird erstmals wieder Gewinn ausgewiesen, der Grande Punto sogar meistverkaufter Pkw Europas. 2007 gelingt ein Coup: mit dem neuen Fiat 500, auf dem Panda basierend, aber in seiner Form auf den legendären 500 anspielend, wie dieser 1957 auch diesmal vom Signore Presidente persönlich vorgestellt.

2014 kauft Fiat überraschend Chrysler, verlegt den Firmensitz von Turin nach Amsterdam, fusioniert 2021 mit dem französischen Konzern PSA (Peugeot, Citroen, Opel) zu Stellantis, damals viertgrößter Autoproduzent der Welt. Nach 122 Jahren ist „Fiat“ als Firmenname passé, aber als Automarke nach wie vor da.

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