Lenin hat keine große Meinung von der Revolutionsfähigkeit der Deutschen. Wenn die einen Bahnhof stürmen wollen, so unkt der Organisator der erfolgreichen Russischen Oktoberrevolution von 1917 einmal, dann kaufen sie sich zuvor eine Bahnsteigkarte.
Das Urteil ist ungerecht. In kaum einem Land, Frankreich einmal ausgenommen, gibt es so viele Revolutionen wie auf deutschem Boden: 1848, 1918 und 1989. Allerdings: Nur zwei davon sind erfolgreich, und auch nur letztere auf Dauer. 1848 jedoch, der erste demokratische Versuch der Deutschen, scheitert kläglich. Aber eben nicht nur hier.
Mehr erfahren über die 1848er Revolution und die Paulskirche
Authentischer Ort: Paulskirche in Frankfurt am Main im historischen Zentrum der Innenstadt, direkt neben dem Rathaus (Römer). Navi-Adresse: 60311 Frankfurt, Paulsplatz.
Geschichte: Erbaut 1789 bis 1833 am Ort einer mittelalterlichen Kirche. Bei Luftangriff 1944 schwer beschädigt.
Wiederaufbau: 1947/48 außen mit Flachdach statt historischer Kuppel, innen mit völlig neuem Zuschnitt: In das Kirchenschiff wird eine Zwischendecke eingezogen, darunter im Erdgeschoss eine Wandelhalle eingerichtet, darüber ein Saal.
Heutiges Aussehen: Der Saal ist völlig schmucklos, ohne die historischen Emporen, stattdessen mit fest installierter Sitzungssaal-Bestuhlung versehen. An den kalkweißen Wänden Fahnen der deutschen Länder. Einzige Reminiszenz an die frühere kirchliche Nutzung: die Orgel oberhalb des Rednerpultes.
Besichtigung: täglich 10 bis 17 Uhr, Eintritt frei, elektronische Infotafeln zur Geschichte in der Wandelhalle.
Denkmäler: Am Turm seit 1964 ein Mahnmal für die Frankfurter Opfer des Holocaust, im Sockel die Namen der Vernichtungslager, beginnend mit Auschwitz. Auf der Seite zum Platz hin Gedenktafel für US-Präsident John F. Kennedy, der hier am 25. Juni 1963 eine große Rede hielt.
Literatur: Gerade erschienenes Buch des Heidelberger Historikers Frank Engehausen über das Paulskirchen-Parlament mit dem Titel „Werkstatt der Demokratie“, erste umfassende Darstellung zu diesem Thema seit den 1960er Jahren, basierend auf den authentischen Sitzungsprotokollen. 350 Seiten, erschienen im Campus Verlag, 32 Euro. -tin
Denn die Revolution von 1848 ist ein europäisches Ereignis. Alle Länder des Kontinents werden erfasst – mit zwei großen Ausnahmen: England, wo ein parlamentarisches System bereits besteht, und Russland, wo noch kaum Bürgertum existiert.
Europäisches Ereignis
Revolution liegt in Europa seit langem in der Luft: Missernten verschlechtern die Lebensbedingungen der unteren Schichten. Das aufstrebende Bürgertum wiederum stört sich an der Vorherrschaft des Adels, verlangt mehr politische Mitsprache. Speziell in Deutschland kommt der Wunsch nach Ende der Klein-staaterei und einem einheitlichen deutschen Nationalstaat hinzu.
Die Initialzündung zur Revolution erfolgt jedoch in Paris: Am 24. Februar 1848 wird der König gestürzt, die Republik ausgerufen. Die Nachricht davon verbreitet sich in Windeseile und beflügelt Demokraten in ganz Europa, auch in Deutschland.
Was sich dann abspielt, hat nichts mit Lenins Bonmot von der Bahnsteigkarte gemein: Bauern verbrennen Grundbücher, in denen ihre Leibeigenschaft fixiert ist, Bürger bilden Barrikaden und bewaffnen sich. Die Fürsten stehen unter Druck, sehen sich gezwungen, Reformen zu versprechen, liberale Regierungen zu ernennen; in Wien stürzt nach 40 Jahren die verhasste Symbolfigur der Restauration, Fürst Metternich.
In Baden geht es zunächst weniger blutig, aber nicht weniger entschieden zu. Am 27. Februar, 10 Uhr, treffen die Nachrichten aus Paris in Mannheim ein. Um 15 Uhr kommen in der Aula des ehemaligen Jesuitenkollegs 2500 Menschen zusammen, um eine Petition für mehr Bürgerrechte zu verabschieden. Diese sagt die badische Regierung zunächst zu.
Startschuss in Heidelberg
Am 5. März treffen sich in Heidelberg 51 Mitglieder süddeutscher Ständevertretungen und fordern die Einberufung einer Nationalversammlung, um eine demokratische Verfassung für ganz Deutschland auszuarbeiten. Bei einem zweiten Treffen in größerem Rahmen mit nun 500 Teilnehmern („Vorparlament“) am 3. April in Frankfurt wird die Ausschreibung von Wahlen für eine solche Versammlung beschlossen.
Innerhalb nur eines Monats wird eine Wahl organisiert, die es zuvor niemals gibt. Ganz Deutschland wird in Wahlkreise eingeteilt, so dass auf 50 000 Einwohner ein Abgeordneter kommt. Dabei gilt das Wahlrecht des jeweiligen Teilstaates, in Baden besonders restriktiv, da an einen eignen Hausstand gebunden.
Als Tagungsort wird Frankfurt festgelegt – geografisch in der Mitte Deutschlands gelegen, als Ort der Krönung der mittelalterlichen deutschen Kaiser mit zentraler Tradition, als Freie Stadt keinem Fürsten unterstellt, geeignet für freie Debatten.
Am 18. Mai wird die Verfassungsgebende Nationalversammlung feierlich eröffnet. Durch das Spalier der Bürgerwehr ziehen die Parlamentarier vom Kaisersaal des Römer in die Paulskirche. Unter den insgesamt 586 Abgeordneten sind 233 Juristen, 106 Professoren und 46 Fabrikanten, aber nur vier Handwerker. Bauern und Arbeiter sind überhaupt nicht vertreten, ebenso wie Frauen.
Mit dabei sind sechs Mannheimer, jedoch nicht alle als Vertreter ihrer Stadt. Ihr gewählter Repräsentant ist Wilhelm Sachs, Friedrich Hecker dagegen hat seinen Wahlkreis in Südbaden, Friedrich Daniel Bassermann sogar in Bayern. Alle Mannheimer gehören den liberalen bis linken Gruppierungen an. Denn in den Diskussionen bilden sich bald Fraktionen heraus, die im Plenum auch zusammen sitzen: die Konservativen rechts, die radikalen Demokraten links. Daraus ergibt sich eine Sitzordnung, die im Berliner Bundestag bis heute gilt.
„Reden vom Blatt abzulesen, das war verboten“, weiß Frank Engehausen, der gerade ein Buch über die Nationalversammlung veröffentlicht hat. Auch eine kräftige Stimme ist nötig, denn auf der Galerie sitzen 2000 Zuhörer. Transparenz ist dem Parlament wichtig. Die Protokolle der Reden werden sofort gedruckt und am Tag danach veröffentlicht.
Eines der Hauptthemen: Was ist Deutschland überhaupt? Sprich: Gehört Österreich dazu, das zum großen Teil aus nicht-deutschen Volksgruppen besteht – Tschechen, Ungarn, Polen? Die Abgeordneten wollen, dass nur der deutschsprachige Kern Österreichs Mitglied des neuen deutschen Einheitsstaates werden soll. Die Wiener Regierung lehnt das natürlich strikt ab, denn das würde eine Zerschlagung des Kaisertums Österreichs bedeuten. Daraufhin beschließt die Versammlung mit 290 zu 248 Stimmen, dass es dem neuen Staat nicht angehören soll.
Zweite wichtige Frage: Welche Struktur soll der neue Staat haben: Monarchie oder Republik? Mehrheitlich entscheidet sich das Parlament für eine erbliche Monarchie, wobei der König von Preußen stets „Kaiser der Deutschen“ sein soll.
Am 3. April 1849 wird diesem die Würde angetragen. Doch Friedrich Wilhelm lehnt „die mit dem Ludergeruch der Revolution behaftete“ Krone ab. Damit scheitert das Projekt der Verfassung, auch das Parlament, ja die Revolution an sich.
Die Nationalversammlung löst sich auf, indem viele Abgeordnete frustriert nach Hause gehen oder von den Fürsten abberufen werden. Was übrig bleibt, wird vom Militär auseinander gejagt. Diejenigen, die nicht aufgeben wollen, unter ihnen der Mannheimer Wilhelm Sachs, fliehen ins liberal gesonnene Stuttgart und bilden hier das „Rumpfparlament“, als das es in die Geschichte eingeht. Im Juni wird jedoch auch dieses durch die Armee gesprengt.
Sieg der alten Mächte
Vor allem in Baden kommt es zu Aufständen dagegen. Sie werden von der Armee niedergeschlagen – unter dem Befehl Prinz Wilhelms von Preußen, des späteren deutschen Kaisers Wilhelm I., der daher den Beinamen „Kartätschenprinz“ erhält. Die alten Mächte haben gesiegt.
Die Folgen: „Dem Land geht eine ganze Generation von Demokraten verloren“, konstatiert Historiker Engehausen. Viele ziehen sich frustriert aus der Politik zurück, wie Bassermann, der sogar den Freitod wählt. Andere werden hingerichtet wie Robert Blum oder sitzen in Festungshaft wie Gustav Struve, der im September 1848 in Lörrach die Republik ausruft, die jedoch nur wenige Stunden lang existiert. Danach emigriert er ins Ausland, wie so viele andere. Wilhelm Sachs geht nach London, Friedrich Hecker in die USA – ebenso wie Carl Schurz, der es als Weggefährte von Abraham Lincoln sogar zum Innenminister der USA bringt.
Eine Langzeitwirkung entfaltet jedoch der von der Nationalversammlung beschlossene Grundrechtskatalog: Manches wird nach 1849 zwar zunächst rückgängig gemacht wie die Abschaffung des Adels und der Todesstrafe sowie die Gleichstellung der Juden, anderes wie das Ende des Feudalismus nicht.
Vor allem jedoch ist der Geist der Freiheit aus der Flasche. Selbst Otto von Bismarck kommt daran nicht vorbei; als der „Eiserne Kanzler“ 1871 den Nationalstaat von oben schafft, übernimmt er das allgemeine Wahlrecht der 1848er Revolution. Die Grundrechte schließlich werden Vorbild für die Weimarer Verfassung 1919 und das Grundgesetz, das am 23. Mai 1949 verabschiedet wird – fast genau 100 Jahre nach Scheitern der ersten demokratischen Revolution in Deutschland.
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