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"ABBA Voyage" feiert in London Weltpremiere

Von 
Katja Schwemmers
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Sein oder nicht sein? Auf der Bühne tanzen und singen die ABBAtare. © Johan Persson

„We want ABBA!“, skandieren die stehenden Fans im trapezförmigen Innenraum der eigens für die „ABBA Voyage“-Show errichteten Arena im Osten Londons, wenige Minuten bevor die Weltpremiere des als bahnbrechend gepriesenen Konzerts über die Bühne gehen soll. Aber welche ABBA meinen sie? Die echten ABBA, deren Mitglieder sich am Donnerstagabend - kurz nachdem das Saallicht ausgeht - auf ihre Plätze begeben und sichtlich Freude dabei haben, sich selbst bei der Arbeit zuzuschauen? Oder ihre digitalen Versionen, die von nun an sieben Mal die Woche als Stellvertreter einen 95-minütigen Konzertabend mit 20 Hits bestreiten werden?

65 Millionen Pixel

Über mehrere Wochen ließen sich die leibhaftigen ABBA im Motion-Caption-Verfahren von 160 Kameras abfilmen, um ihre ABBAtare so natürlich wie möglich erscheinen zu lassen. Riesenjubel brandet auf, als die virtuellen ABBA mit 20 Minuten Verspätung aus dem Bühnenboden aufsteigen. Nach und nach entblättert sich ein buntes Treiben wie zuletzt vor 40 Jahren: Benny Andersson steht hinter dem weißen Tasteninstrument, Björn Ulvaeus zupft an der Gitarre, in der Mitte tanzen Agnetha Fältskog und Anni-Frid Lyngstad in glitzernden Umhängen zum Eröffnungssong „The Visitors“; die gleichnamige Platte war Ende 1981 das letzte Studioalbum vor der Trennung der Band.

Nun soll die Reise also weitergehen und womöglich kein Ende mehr finden. Als Zuschauer mag man seinen Augen nicht trauen, was die Technologie kann: Die vier Figuren dort vorne wirken wie eine Band aus Fleisch und Blut. Dafür sorgen Bildschirme mit 65 Millionen Pixel - so viel gab’s noch nicht mal in Hollywood-Filmen. 1000 Mitarbeiter in vier verschiedenen Studios und eine Milliarde Arbeitsstunden sollen in die Kreation der Avatare geflossen sein. Das hat sich gelohnt. Nur wenn Agnetha in Großaufnahme auf den seitlichen Screens erscheint, zerstört es mitunter die Illusion der echten ABBA. Eine zehnköpfige Live-Band sorgt für eine Brücke zwischen ABBAtaren und Publikum.

Surreal wird es, als die Stimme des echten gealterten Benny im Körper seines jungen Avatars das Wort ergreift. „Sein oder nicht sein - das ist hier die Frage“, philosophiert er humorvoll über das eigene Schicksal. „So fühlt es sich also an, durch Zeit und Raum zu reisen… Ich sehe wirklich gut aus für mein Alter.“ Die Lacher hat er damit auf seiner Seite. Und durch seinen gelungenen Avatar definitiv an Sex-Appeal dazugewonnen.

Emotional packend und geradezu poetisch ist „Knowing Me, Knowing You“ umgesetzt. Es ist eines mehrerer Lieder, zu denen die ABBAtare nicht als Performer auf der Bühne, sondern lediglich als Film auf den großen Leinwänden auftauchen. Benny und Frida umarmen sich. Agnetha und Björn umarmen sich. Frida streicht Agnetha zärtlich über die Wange. Die Ehescheidungen der ABBA-Paare und die Konkurrenzkämpfe zwischen den Frauen - alles Schnee von gestern. Hat nicht jeder von uns schon mal davon geträumt, rückwirkend alles wieder heile machen zu können?

Partystimmung kommt erstmals bei „Chiquitita“ auf. Der Saal klatscht im Kollektiv, während ABBA eine Sonnenfinsternis herbeimusizieren - analog zum Artwork ihres letztjährigen Albums „Voyage“. Und tatsächlich: Auch ABBAtare werfen Schatten! Genau genommen haben die neuen ABBA sogar an Körperlichkeit dazugewonnen: So raumfordernd getanzt wie bei diesem Konzert haben die Frauen früher nicht. 2022 gibt es auch viel mehr Interaktion zwischen den beiden.

Frida erzählt von ihrer Großmutter, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg bei sich aufnahm und großzog. „Mein Vorbild und meine Heldin. Das ist mein Tribut an alle Frauen in der Welt, die sich ihr Leben zurückholten, nachdem alles von ihnen genommen wurde.“ Die Sätze des Konzerts, die am besten ins Hier und Jetzt passen.

Gigantisches Lichtdesign

Der beste Teil der Show ist zugleich der modernste: Zu „Lay All Your Love On Me“ tragen ABBA die schwarzen Catsuits mit Neon-Streifen, die man schon von den „Voyage“-Promotion-Fotos kennt. Frida tanzt Choreographien im Laser-Meer, die sich doch eher im 21. Jahrhundert verorten lassen. Von diesem ABBA-Update hätten wir gerne mehr gesehen! Bei „Dancing Queen“ fahren Stäbe mit Lampions hoch und runter. Dazu wird das gigantische Lichtdesign mit 500 beweglichen Lichtern in seiner vollen Buntheit ausgelotet. Natürlich hält es bei dem Song niemanden mehr auf den Sitzen.

Für den Rausschmeißer „The Winner Takes It All“ fahren ABBA einen 40-köpfigen Chor auf. Ist der echt oder nicht? Am Ende stellt man alles in Frage. Und kaum haben sich die ABBAtare verabschiedet, kommen die echten ABBA von rechts auf die Bühne. Diesen Moment der vielleicht letzten öffentlichen Reunion der Pop-Legenden schlägt nichts. Und es gibt wohl kaum jemandem im Saal, der dabei nicht feuchte Augen hat. Sie sagen dabei kein Wort. Das wollen sie von nun an den ABBAtaren in ihrer gelungenen Show überlassen.

Freie Autorin

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