Nationaltheater

Nationaltheater Mannheim zeigt Premiere von „Die Zukünftige“

Es war einmal eine glückliche Familie - bis der Vater einen Nervenzusammenbruch erleidet und die Mutter die gemeinsame Zahnarztpraxis nicht mehr alleine halten kann. Der Ausweg? Vielleicht das eigene Haus in Brand zu setzen

Von 
Martin Vögele
Lesedauer: 
Die Schauspieler (v.l.) Boris Koneczny, Almut Henkel, Antoinette Ullrich, Larissa Voulgarelis, Maria Munkert und Eddie Irle rotieren durch die Rollen. © Maximilian Borchardt

Es wird einmal gewesen sein, in naher Zukunft, in einem Land ganz gleich dem unsrigen, ein Land der vertrockneten Buchen. Da werden eine Mutter und ein Vater und ihre Zwillingstöchter in einem schönen Haus gelebt haben und einander erst innig verbunden, dann, nach einem Feuer, entzweit gewesen sein. Es wird eine Geschichte sein, die kein glückliches Ende genommen haben wird. Vermutlich. Vielleicht.

Das Haus, von dem hier die Rede ist, steht bei der von Regisseurin Theresa Thomasberger inszenierten Premiere von Svenja Viola Bungartens Stück „Die Zukünftige“ am Mannheimer Nationaltheater ein wenig schepp auf der (von Mirjam Schaal ausgestatteten) Studio-Werkhaus-Bühne: Ein schiefes, aus dem Lot geratenes Gebäude in einer Welt, welche die gegenwärtige sein könnte – nur eben ein paar Grad mehr ins Dystopische geneigt, noch ein bisschen wärmer, Dürren-reicher und Ressourcen-ärmer, mit noch höherem Katastrophenrisiko.

Ein bisschen Kästner und Grimm

Das Häuschen hat eine gewisse Lebkuchen-hafte Puppenstubigkeit, sein Dach ist glänzend rosa und kann, ebenso wie die Seitenwände, abgenommen werden. Darin wohnen die Zwillingsschwestern Henriette und Emilie (kurz: Henri und Em), deren Eltern dort auch eine Zahnarztpraxis betreiben. Aber weil die besser laufen könnte und die Hypothekenraten bedient werden wollen, versuchen sich die Eltern an einem Versicherungsbetrug: Brandstiftung am Eigenheim. Was nicht verborgen bleibt, zu einem Strafbefehl und weiteren Schulden und schließlich zur Trennung des zerstrittenen Paares und ihrer Kinder führt.

So könnte es gewesen sein, allerdings erscheinen uns die Zwillinge, die von diesen Geschehnissen berichten, nicht als die zuverlässigsten Erzählerinnen. Zehn Jahre später begegnen sie sich jedenfalls bei einer Beerdigung wieder. Die eine, Henri, die bei der Mutter geblieben war, ist gerade Chefärztin geworden. Em, die den depressiv erkrankten Vater pflegt, arbeitet bei der Trauerfeier als Servicekraft. Sie sei Autorin, sagt sie. Die beiden werden ihre Rollen tauschen und eine Zeit im Leben der anderen leben – gleichsam als Goldmarie und Pechmarie, denn neben Erich Kästners „Das doppelte Lottchen“-Sujet finden sich allerlei grimmsche Märchenmotive in der Stückhandlung wieder, „Die Prinzessin auf der Erbse“ etwa, „Dornröschen“ und, natürlich: „Frau Holle“ und „Hänsel und Gretel“.

Dramatikerin Bungarten hat ihren 2019 geschriebenen und 2022 mit dem dritten Else-Lasker-Schüler-Stückepreis ausgezeichneten Text in enger Abstimmung mit Regisseurin Thomasberger noch einmal für die Mannheimer Uraufführung bearbeitet. Gespielt von Almut Henkel, Boris Koneczny, Maria Munkert, Eddie Irle sowie Antoinette Ullrich und Larissa Emma Voulgarelis.

Thomasberger lässt die Besetzung rotieren: Alle spielen hier mal die Zwillinge, mal die Eltern und weitere Figuren. Uniform tragen sie, Perücken mit geflochtenen Zöpfen, dazu verwindungssteife Plastik-Leibchen und -Schürzen, die angeklipst werden können – was ein bisschen an Playmobilfiguren-Kleider erinnert. Das rollierende Rollensystem kann einem schon mal den roten Handlungsfaden aus der Hand reißen, zumal das Tempo, vor allem eingangs, enorm hoch ist. Gerade mal rund 70 Minuten wird die Aufführung insgesamt dauern. Aber mit der Geschwindigkeit gewinnt auch der dem Stück eingeschriebene, tragikomische Witz an Fahrt; und in den Kernfiguren leuchten während der rasanten Personalkarussell-Fahrt immer neue Charakteraspekte auf.

Alles ein Albtraum?

Eine absolut bemerkenswerte Leistung des durchweg überzeugend aufspielenden Ensembles ist es, hier Takt und Übersicht zu (be)halten. An den Rändern der Geschichte besticht insbesondere Koneczny als missgünstiger Ausbildungsarzt, innerlich gebrochen, nachdem er seine Frau in einem Unfall verlor (eine tote Buche fiel aufs Auto). Und Munkert gibt eine wunderbar mondäne, an der eigenen Egozentrik gescheitert Mutter, die aus dem kanadischen Exil geworfen wird.

Etwas besseres als den Tod finden die Figuren in dieser schwarzbunten ökologischen Endzeitballade offenbar kaum. Am Schluss aber wird die Familie zurückgeworfen an den Anfang – möglicherweise war all das ein kollektiver Albtraum. Und, wer weiß: Vielleicht werden diese Vier, die Spiegelungen von uns allen sind, ja aus der vollendeten eine offene, eine bessere Zukunft machen.

Freier Autor

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen