Drei Jahre und neun Produzenten hat es gebraucht, bis „Songs Of Experience“ an die Öffentlichkeit gelangte. Es ist das 14. Studioalbum der irischen Rockband U2 und damit Fortsetzung und Gegenstück zu „Songs Of Innocence“ von 2014. Das Werk klingt mitreißend, vielschichtig, leidenschaftlich, hoffnungsvoll und keinesfalls altersmüde. Und doch wird es überschattet von den Finanzenthüllungen rund um die „Paradise Papers“, denen zufolge die litauische Steuerbehörde VMI gegen ein weit verzweigtes Firmengeflecht von U2-Frontmann und Anti-Armuts-Aktivist Bono ermittle. Darum soll es aber beim Interview in Berlin aber nicht gehen, fordert das Management. Entspannt plaudern der 57-jährige Sänger und Gitarrist The Edge (56) beim Bier über das Altern im Rockzirkus und ihre besseren Hälften.
Meine Herren, was ist die bessere Phase einer Band: Die der Unschuld, wenn man gerade anfängt und die Welt erobern will? Oder die als erfahrene Band mit 14 Alben auf dem Buckel?
The Edge: Eigentlich die der Unschuld. Aber es gibt da großartige Ausnahmen. Leonard Cohen ist eine – er wurde im Laufe seiner Karriere immer tiefsinniger und interessanter. Darum bemühen wir uns auch.
Bono: Wir bilden uns derzeit ein, dass wir am Ende der Erfahrungen, weit hinten am Horizont, mit Weisheit belohnt werden. Wir sind dann vielleicht in der Lage, die Unschuld zurückzugewinnen und so frei und naiv zu sein wie zu U2s Anfangszeiten. Dann ist auch Bono ein anderer.
Eine schöne Vorstellung für Sie?
Bono: Absolut. Man lernt zu viel über die Welt, wenn man erwachsen wird. Es hat oft viel mehr Stärke, etwas nicht zu wissen. Darum geht’s auch auf den beiden Alben „Songs Of Innocence“ und „Songs Of Experience“. Wenn man sie hintereinander hört, ist das auch ein Zwiegespräch zwischen dem jungen und dem älteren Ich. Ich bin mir nicht sicher, was mein jüngeres Ich von mir hält.
Inwiefern?
Bono: Die jüngere Version sieht alles Schwarz oder Weiß und ist viel schonungsloser – so nach dem Motto: „Wir gegen den Rest der Welt.“ Sie wirft mit Steinen nach dem Feind. Aber wenn man älter wird, realisiert man, dass der größte Feind der Blick in den Spiegel ist. Dass größte Hindernis, dich weiterzuentwickeln, bist du selbst und das, was in dir drin ist.
Ist es schwer, in Würde im Rockzirkus zu altern, wenn man von so viel Zynismus umgeben ist?
The Edge: Ich denke, wir machen unsere Sache ganz gut. Klar, da ist viel Häme. Aber wir lassen uns davon nicht beirren. Wir fühlen auch noch immer dasselbe wie damals vor 40 Jahren, als wir anfingen. Wir sind eine Straßengang, die nie erwachsen wurde. Und so lange wir das Gefühl aufrechterhalten können ...
Bono: ... können wir noch würdevoll erwachsen werden.
Ende Oktober haben Sie die Tour zum 30. Jubiläum des Albums „The Joshua Tree“ beendet. Wann ist das Rockstar-Ego eigentlich am größten: am Anfang oder am Ende einer Tour?
Bono: Ha! Man würde annehmen, dass es sich auflädt und irgendwann explodiert, wenn du jeden Abend vor 70 000 Leuten stehst. Aber genau das Gegenteil ist der Fall!
The Edge: Das Ego implodiert.
Bono: Ich kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass mein Ego am Ende einer U2-Tour kleiner ist als am Anfang. Da ist eine Leere. Und in dem Moment, wenn es sich normal anfühlt, dass dir jede Nacht Zehntausende Leute entgegenkreischen, ist es dann auch nicht mehr gut.
In dem humorvollen neuen Lied „The Showman“ singen Sie „I lie for a living“ - ich lüge von Berufswegen. Ist das so?
Bono: In dem Stück geht es um Performer und darum, dass man sich vor ihnen in Acht nehmen muss. Denn sie können jedes Weinen und jedes Lachen vortäuschen, sogar den Orgasmus.
The Edge: Ich sag immer: Frauen können Orgasmen faken, Männer eine ganze Beziehung.
Bono: Ich wünschte, ich selbst würde das mit dem Faken auf der Bühne öfter tun. Denn ich habe meine Gefühle dort nicht immer unter Kontrolle.
U2 waren die letzten acht Jahre fast konstant auf Tour. Auf der neuen Platte widmen Sie Ihren besseren Hälften „You’re The Best Thing About Me“. Ist das Ihre Form der Entschuldigung für entgangenes Familienleben?
Bono: Ach, die ist ja gar nicht nötig! Wenn ich heute das Haus verlasse, sehe ich sogar ein Strahlen in den Augen von Ali und den Kindern. Es ist anders als früher: Wenn wir da auf Tour gegangen sind, haben wir unsere Familien oft Monate nicht gesehen, aber heutzutage begleiten sie uns auch oft. Meine Frau ist sehr unabhängig. Ich glaube, ihr gefällt es sogar, wenn sie eine Pause von mir hat.
Auf dem Albumcover von „Songs Of Experience“ sieht man zwei Ihrer Kinder ...
The Edge: Bonos Sohn Eli und meine Tochter Sian hatten Spaß dabei. Bei „Songs Of Innocence“ waren es Larry (Mullen Jr., U2-Schlagzeuger, Anm. d. Red.) und sein Sohn Elvis. Auch wenn man dort das Gesicht von Elvis nicht sieht, fühlte sich dieses Bild an wie die Antwort auf das Artwork. Da ist etwas an dem Bild, das sehr eindringlich ist: Die Dualität der Unschuld, aber mit einem Militärhelm, was Unheil erahnen lässt. Es passt in unsere Zeit.
Info: Bildergalerie unter morgenweb.de/kultur
„Songs Of Experience“
Sänger Paul Hewson alias Bono Vox, geboren am 10. Mai 1960 in Dublin, und der als The Edge bekannte Gitarrist David Howell Evans (8. August 1961 in Barking bei London) sind mit Bassist Adam Clayton und Schlagzeuger Larry Mullen Jr. als U2 seit 1978 zu einer der wichtigsten Bands der Welt aufgestiegen. Ihre Alben wie „War“ (1983), „The Unforgettable Fire“ (1984), „The Joshua Tree (1987) oder „Achtung Baby“ verkauften sich insgesamt über 100 Millionen Mal.
Das gerade erschienene (Island/Universal) „Songs Of Experience“ ist die 14. Studioplatte von U2. jpk
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