Salzburg. Weiße Flocken rieseln unaufhörlich vom Bühnenhimmel, tauchen alles in ein verwaschenes, undurchdringliches Grau. Die Konturen der Landschaft lösen sich auf, die Sinne werden in die Irre geführt. Wo eben noch ein Weg war, ist jetzt ein tiefer Abgrund. Wer den Gefahren der Natur trotzen will und ein klares Ziel hat, wird es nicht erreichen und verloren gehen in der weiten Wüste und niemals wieder auftauchen in der realen Welt.
Ihm wird es ergehen wie dem Arzt und seinem Kutscher, die sich trotz eines immer heftiger werdenden Schneesturmes aufmachen zu einem abgelegenen Ort, in dem eine mysteriöse Seuche wütet, die alle Infizierten in groteske Zombies verwandelt.
Eine mysteriöse Seuche an einem abgelegenen Ort
Es ist eine postapokalyptische Reise in eine nahe Zukunft, in der nichts mehr so sein wird, wie wir es heute kennen. Alle Gewissheiten haben sich längst aufgelöst in dieser Welt aus Schnee und Eis, in der ein gnadenloser Sturm tobt, der singen und säuseln, verführen und vernichten kann und alle Hoffnungen auf Heilung unter Bergen weißen Schnees begräbt.
Bei den Salzburger Festspielen bringt Kirill Serebrennikov seine Version von Vladimir Sorokins Roman „Der Schneesturm“ in die weiten und längst von allen industriellen Verwertungsmöglichkeiten befreiten Hallen der Perner-Insel in Hallein. Wo einst das kostbare Salz der Gegend verarbeitet und für Wohlstand sorgte, findet das experimentelle zeitgenössische Theater in den Sommermonaten parallel zu den Opern-Feiern im nahen Salzburg eine produktive und oft provozierende Heimstatt.
Autor und Regie
Vladimir Sorokin (geboren 1955), bekannt geworden mit Romanen wie „Die Schlange“ und „Der Tag des Opritschniks“, ist einer der bedeutendsten Gegenwartsautoren Russlands und einer der schärfsten Kritiker des russischen Staates und des Angriffskrieges gegen die Ukraine .
Kirill Serebrennikov (geboren 1969) hat als Regisseur, Bühnenbildner und Librettist am Bolshoi-Theater gearbeitet und war Künstlerischer Leiter des Gogol-Zentrums in Moskau. Nach dem Überfall auf die Ukraine hat er Russland verlassen und hat in Berlin die Theatergruppe Kirill & Friends Company gegründet. FD
Der aus Putins Reich ins deutsche Exil entwichene russische Regisseur und Autor Serebrennikov bringt seine eigene Theater-Company mit. Und mischt das verträumte Städtchen an der Salzach mit einer kruden Collage aus grellen Tanz- und Musik-Improvisationen, absurden Spiel-Sequenzen und halluzinatorischen Bildern mal richtig auf.
Das Kreativteam floh einst vor Putins Schergen
Der 2010 veröffentlichte Roman seines Freundes Sorokin (der ebenfalls vor Putins Schergen nach Berlin geflohen ist) kommt ihm da gerade recht. Denn „Der Schneesturm“ ist eine literarisch ausufernde und visionäre Allegorie einer von allen moralischen Werten und zivilisatorischen Normen befreiten Welt, auf die ein entfesselter Kapitalismus zusteuert, der das Digitale mit der Diktatur verbindet.
Serebrennikov widersteht zum Glück aber der Versuchung, seine Theaterfassung des Romans mit tagesaktuellen Hinweisen auf die jüngsten Versuche, das Reich des Bösen zur Normalität werden zu lassen und sich die Demokratie gefräßig einzuverleiben, zu verunstalten.
Statt platter Postulate erleben wir einen betörenden Schneesturm, der in alle Ritzen des Lebens dringt und die (Theater-)Welt aus den Angeln hebt. Sonja Beißwenger führt eine Combo aus weiß gekleideten Musikern, Sängern, Tänzern und Video-Bildnern durchs Schneegestöber. Sie schütteln Flocken aus ihren Ärmeln, intonieren überirdische Klänge, umgarnen und betören Dr. Garin und seinen Kutscher Perkhusha, produzieren Bilder, die auf Bullaugen-Fenster und Leinwände projiziert werden und einen Rausch der Sinne entfachen, die Sprach- und Zeitebenen aufheben.
August Diehl mutiert bei Serebrennikov zu einem halsstarrigen deutschen Arzt, der mit seinem Impfstoff die Welt retten und sich ein wissenschaftliches Denkmal setzen will.
Je länger der Theater-Sturm tobt und die Schneeflocken seine Wahrnehmung verändert, desto mehr wird aus dem verbohrten Besserwisser ein erotischer Lüstling. Er erliegt den Reizen einer drallen Müllerin und verwandelt sich im Drogenrausch in ein weinendes Gefühlsbündel, das seine Sünden beichtet.
August Diehl sitzt der Schalk im Nacken
August Diehl schwitzt und wütet ohne Unterlass, ein rhetorischer Vulkan kurz vor dem Bersten. Filipp Avdeev ist sein genialer Partner und süffisanter Gegenspieler, ein im russisch-deutschen Kauderwelsch brabbelnder Gefährte, der den Schalk im Nacken und immer eine passende Antwort auf die Dummheiten der Welt hat.
Aber gegen die Kälte ist auf Dauer kein noch so kurioses Kraut gewachsen. Während die Kamera die beiden auf ihrem Weg ins Delirium begleitet und die Bilder ihrer Verwilderung und Verwahrlosung auf riesige Wände beamt, tobt sich der tanzende Schneesturm immer infernalischer aus. Eine Reise ohne Wiederkehr. Die selbstherrliche Mission wird zur existenziellen Katastrophe. Oder kommt da doch noch was?
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/kultur_artikel,-kultur-wie-kirill-serebrennikov-ein-festival-in-eine-schneelandschaft-verwandelt-_arid,2323385.html