Wenn ein Musiker seinen 100. Geburtstag erleben darf, ist das schon etwas sehr Besonderes. Wenn er aber in diesem Alter noch auf der Bühne steht, ist dies außergewöhnlich. Dem afroamerikanischen Altsaxofonisten Marshall Allen wird diese Gnade zuteil. Am 25. Mai feiert der Leiter des legendären Sun Ra Arkestra seinen runden Geburtstag. Aus diesem Anlass gibt er am Vorabend ein Konzert in der Union-Transfer-Kulturhalle in seiner Heimatstadt Philadelphia.
Seit 1993 leitet Allen die einzigartige Big Band, die der Pianist und Komponist Sun Ra (1914-1993) 1952 gründete. Der Klang-Magier, der damals seinen bürgerlichen Namen Herman Blount ablegte, ist wohl der mysteriöseste Musiker des 20. Jahrhunderts. Er behauptete, vom Saturn zu stammen und kosmische Musik zu machen, um mit seiner Arche (Ark) die Erde zu retten. Dabei war der revolutionäre Big-Band-Leiter ein Pionier des Free Jazz und ein Visionär elektronischer Sounds. Zugleich bewahrte er das Erbe der Swing-Ära und archaischer afrikanischer Trance-Rhythmen. Mehr als hundert LPs hat Sun Ra aufgenommen. Seine Konzerte waren spektakuläre Happenings mit Kostümen, Tänzern, Feuerspeiern und Filmprojektionen.
Marshall Allen trat dem Arkestra 1958 bei, nachdem er als Soldat nach Frankreich gekommen war, in Paris Saxofon studiert und mit James Moody Bebop gespielt hatte. Als Satzleiter der Saxofongruppe wurde er rasch Ras engster Vertrauter. Allen bestach durch seine Vielseitigkeit: Er bezauberte mit idyllischen Flöten-Arabesken und schockierte mit schreiend explosiven Saxofon-Ausbrüchen. Seine verlockenden Beschwörungen auf der Oboe vermochten in exotische Fantasie-Gefilde zu entführen, er konnte aber auch sinnlich swingend wie Johnny Hodges alte Standards intonieren.
Er tut all dies noch heute als Bewahrer von Sun Ras Erbe. Selten nur hat Allen außerhalb des Arkestra gespielt. Etwa auf der grandiosen LP „Barrage“ (1964) des Pianisten Paul Bley: Da bestach er mit Free-Jazz-Soli von großer gestalterischer Kraft im Umgang mit thematischem Material und melodischen Motiven.
Zur Rhein-Neckar-Region hat Allen einen ungewöhnlichen Bezug. Nicht nur, dass er seinen 90. Geburtstag bei einem denkwürdigen Konzert im Weinheimer Café Central begangen hat und zum 95. in der Alten Feuerwache Mannheim spielte. Die früher in Edingen-Neckarhausen, heute im Schwarzwald lebende Fotografin und Ethnologin Sibylle Zerr widmete ihm 2011 auch ihr Buch „Picture Infinity“ (erhältlich über sibylle-zerr.de).
Fotografin aus der Region widmet Marshall Allen ein Buch
Sie ist mit Allen befreundet, war mehrfach mit der Band auf Tour. Er sei ein liebenswürdiger, zurückhaltender Mensch, sagt sie im Gespräch mit dieser Redaktion. „Man kann mit ihm auf einer Bank sitzen und dem Gesang der Vögel zuhören, das mag er.“ Den ganzen Tag sei er mit Musik beschäftigt, spiele pausenlos auf allen möglichen Instrumenten. „Er glaubt fest daran, dass man mit Klängen eine bessere Welt erschaffen kann.“
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