Elton John, jüngst 78 geworden und einer der größten Sänger, Komponisten und Pianomänner der Popgeschichte, leidet an schwindender Sehkraft, hat eine zweite Hüfterneuerungsoperation hinter sich, ein frisches Knie musste zuletzt auch sein. Und nach dem nun wirklich allerletzten Konzert seiner sehr, sehr, sehr langen finalen Tournee am 8. Juli 2023 in der „Tele2 Arena“ in Stockholm hatte der Engländer, der in seiner mehr als ein halbes Jahrhundert andauernden Karriere 32 Studioalben veröffentlichte, plötzlich auch nicht mehr wirklich viel zu tun. Lungerte zu Hause rum, nervte Ehemann David Furnish und die beiden halbwüchsigen Söhne, fünfzehn und zwölf. Eine Anschlussverwendung musste her, und hier betritt jetzt Brandi Carlile die Szene.
Carlile ist 43, US-Singer/Songwriterin mit Schwerpunkt Alternative-Country und Americana, sie ist lesbisch, elffache Grammy-Gewinnerin, seit langer Zeit bestens mit Elton John befreundet und charakterlich auf der freundlich-entspannten Seite des Spektrums angesiedelt. Die beiden haben sich gemeinsam mit dem Produzenten Andrew Watt, der seinerseits auch sehr sympathisch sein soll, in den Sunset Studios zu Los Angeles zusammengefunden und mit „Who Believes in Angels?“ ein Album eingespielt, das gelungener nicht hätte geraten können. „Sie hat mich stärker angeschoben als ich sie“, sagt Elton John in der albumbegleitenden YouTube-Doku, während Carlile dem „Guardian“ verriet, dass John einmal im Studio vor Frust sein iPad auf dem Boden zerschmettert habe. Mittendrin hockte auch noch Bernie Taupin, Eltons jahrzehntelanger genialer Cheflyriker.
Zwischen Brandi Carlile und Elton John fliegen produktive Funken
Aber wenn die Funken so richtig fliegen, bedeutet es eben auch Schöpfung. Zehn Songs haben sie zusammen gemacht, alle anders, alle ganz wundervoll. „The Rose Of Laura Nyro“, die erste Nummer, startet fulminant pfeffrig mit Gitarre und Piano, erst nach gut zwei Minuten setzt Gesang ein, die Stimmen der beiden klingen auf Anhieb topharmonisch. „Little Richards Bible“ ist feister Boogie-Woogie-Soul, und beim juvenil knusprigen „Swing For The Fences“ könnte man vermuten, einige Stones würden mitspielen. Was nicht der Fall ist. Aber ein paar aktuelle und ehemalige Red Hot Chili Peppers (Chad Smith, Josh Klinghoffer) sind am Start.
Es gibt einige herzig-berührende Balladen wie „Never Too Late“ und das von Carlile solo gesungene „You Without Me“, mal steht die Gitarre, mal das Piano im Zentrum. Das Titellied „Who Believes in Angels?“ ist eine dieser gigantischen Pianonummern, mit denen es Elton John zum erfolgreichsten Solokünstler in der Geschichte der amerikanischen Billboard-Charts brachte. „Someone To Belong To“ ist ein Popsong epischer „König der Löwen“-Güte, und das ostentativ optimistische „A Little Light“ entstand nach einem Wutanfall-Frühstück Johns angesichts der deprimierenden Israel-Gaza-Gesamtsituation, gefolgt von einer Brandi-Beschwichtigung.
Das Grande Finale gebührt Elton dann allein. „When This Old World Is Done With Me“ mit Taupin-Textperlen wie „Wenn ich meine Augen schließe, lass mich los wie eine Meereswelle. Gib mich der Flut zurück.“ So weit ist es noch nicht. Elton John ist älter geworden und angeschlagener, aber wer ihn etwa jüngst auf der Bühne des Londoner Palladiums beim One-Night-Only-Konzert nebst Plausch mit Carlile erlebte, der sah einen vitalen und munteren Mann, dessen neues Album von erheblichem Wert für die Lebenszufriedenheit sein dürfte.
Das Album „Who Believes In Angels?“ ist am 4. April erschienen.
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/kultur_artikel,-kultur-so-ist-who-believes-in-angels-von-elton-john-brandi-carlile-_arid,2296122.html