Salzburg. Nebel wabert durch die alte Fabrikhalle auf der Perner Insel in Hallein und hüllt das sich unsichtbar und nur im Kopf des Zuschauers abspielende Schlachtgetümmel in ein undurchdringliches Ungefähr. Maschinengewehre rattern, Granaten zischen, Bomben explodieren. Vom Virus der Kriegsbegeisterung befallen, sind die Menschen wie von Sinnen, verwandeln sich unter dem Einfluss rhetorischen Dauerfeuers und ideologischer Verblendung von furchtsamen Mitläufern in stahlharte Tötungsmaschinen.
Wer den zur bösen Karikatur verfremdeten Anderen hasst und das mit Lorbeeren bekränzte Vaterland vor dem Ansturm der angeblichen Barbaren retten will, kennt keine Moral mehr, kein Erbarmen und keine Menschlichkeit. Begleitet von nervenzerfetzenden Gitarren-Gewittern und metallisch schepperndem Trommel-Getöse, gefüttert mit dem hysterischen Wahnsinn der Weltverbesserer und den Lügen der lauten Schlagzeilen rennt die entfesselte Masse Mensch ins Verderben. Dann kennt die Lust an der Selbstzerstörung keine Grenzen, brechen sie an: „Die letzten Tage der Menschheit“.
Parízek verdichtet Kraus‘ Monumentalwerk auf drei Stunden
Der tschechische Regisseur und Bühnenbildner Dusan David Parízek, der seit Jahren auch an deutschsprachigen Theatern mit seinen bildstarken und wortgewaltigen Arbeiten für Furore sorgt, inszeniert bei den Salzburger Festspielen seine eigene Fassung eines eigentlich unspielbaren Text- und Gedanken-Ungetüms.
Von 1915 bis 1922 hatte der österreichische Schriftsteller, Journalist und Zeitschriftenherausgeber Karl Kraus eine „Chronik der fortlaufenden Ereignisse“ erstellt und eine literarische Collage aus Fakten und Fiktionen, Dokumenten und Zitaten erstellt, um den entgrenzten Wahnsinn der Welt und die grauenhaften Geschehnisse und fürchterlichen Folgen des Ersten Weltkrieges fassbar zu machen. Herausgekommen ist weit über 1.000-seitiger Steinbruch aus über 220 Szenen, mehr als 1.000 Figuren und mindestens 200 Schauplätzen.
„Ich habe eine Tragödie geschrieben, deren untergehender Held die Menschheit ist“, meinte Kraus zu seinem „Marstheater“-Stück, das „nach irdischem Zeitmaßstab etwa zehn Abende“ umfassen würde. In Gänze aufgeführt wurde das von moralischem Verfall, politischer Propaganda und lasterhafter Lust am Untergang erzählende Textgefüge noch nie. Auch Parízek klaubt sich lediglich einige Figuren und Fragmente heraus und destilliert aus der uferlosen Sprach- und Bild-Gewalt der satirischen Tragödie eine dreistündige Fassung.
Ein Kaleidoskop des Krieges und der Täuschung
Dass sie von verstörender Aktualität ist, spürt jeder Zuschauer in der grau-betonierten Halle der ehemaligen Saline sofort. Wenn der in mehrere Rollen und Kostüme schlüpfende Peter Fasching vom einfachen Soldaten und geduldigen Alltagshelden zum wütenden Gitarren-Virtuosen und akustischen Terroristen mutiert, ergreift einen die Wucht der Wort-Kaskaden und Schreckens-Bilder. Marie-Luise Stockinger wuselt als Kriegsreporterin durchs Geschehen und macht aus jeder Wahrheit eine Lüge. Dörte Lyssewski mimt eine abgehalfterte Diva, die sich willig in die Kriegsmaschine einfügt und den „Jungs in den Schützengräben“ mit neckischen Späßen und banalen Songs die Angst vorm Sterben nimmt. Michael Maertens ist ein aasig lächelnder Diplomat und verlogener Politiker, der jedes Mikrofon und jede Kamera für seine Kriegspropaganda nutzt.
Zum Stück
- „Die letzten Tage der Menschheit“ (Karl Kraus), in einer Fassung von Dusan David Parízek, Salzburger Festspiele/Perner-Insel, Hallein.
- Weitere Vorstellungen am 29. und 30. Juli, 1.,3.,5. und 6. August.
- Infos und Karten unter www.salzburgfestival.at. Die Inszenierung ist eine Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater, Premiere ist dort am 5. September.
- Im Vorwort zur Buchausgabe von „Die letzten Tage der Menschheit“ (1922) schreibt Karl Kraus: „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen; die grellsten Erfindungen sind Zitate.“
Die Bilder von Verwüstung und Tod werden zu einem Schlachten-Gemälde collagiert und auf einen riesigen Holzwürfel projiziert, der zum Denkgefängnis wird. Wenn die Wände des Würfels krachend zusammenfallen, enthüllen sie die Leere und das Nichts des von allen guten Geistern und moralischen Werten verlassenen Menschen. Gegen die Worte eines Pfarrers (Felix Rech), der das Töten des Feindes zur heiligen Pflicht eines jeden guten Christen erklärt, kommt selbst der aufgeklärte „Nörgler“ (Elisa Plüss) nicht an, der zwar alles erklären, aber die Menschen nicht zum Besseren bekehren kann.
Der Untergang ist nah: Apocalypse Now. Der Vorhang, hinter dem sich alte und neue Ungeheuerlichkeiten offenbaren, geht immer wieder auf und zu. Kein Ende, nirgends. „Was empfinden Sie jetzt?“, fragt Bruno Samarowski, der als Patriot an den Krieg glaubt. Dass sein Sohn auf der Schlachtbank geopfert wird, will er nicht wahrhaben: „Mir bleibt auch nix erspart.“
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