Eigentlich wollten Anne und Georges ihren Ruhestand genießen, ihren Kunstinteressen nachgehen und ihre lebenslange Liebe Tag für Tag erneuern. Aber dann hat das schöne Leben schlagartig ein Ende. Beim Frühstück fällt Anne in einen katatonischen Zustand absoluter Leere. Ein Schlaganfall wird diagnostiziert. Die Operation an der verstopften Halsschlagader misslingt. Anne wird zum Pflegefall, ist auf gedeih und Verderb auf Hilfe von Georges angewiesen, muss gewaschen und gefüttert werden, hat unsägliche Schmerzen und nur noch einen Wunsch: zu sterben. Ist das Kissen, das der überforderte Georges ihr aufs Gesicht drückt, um sie zu erlösen, ein letzter Beweis seiner Liebe oder ein schnödes Verbrechen? Ist der anschließende Selbstmord von Georges eine feige Flucht aus dem Leben oder eine Erlösung von den Zumutungen dieser Welt?
Regisseurin Karin Henkel bringt bei den Salzburger Festspielen ihre Theaterfassung des Films „Liebe (Amour)“ zur Uraufführung auf die Landesbühne. In weiten Teilen hält sie sich an Szenenfolge und Text von Michael Haneke, dessen bewegendes Kino-Epos über die Schönheit der Liebe und den Schrecken des Todes in Cannes die Goldene Palme gewann und in Hollywood einen Oscar bekam.
Diskurs über Liebe und Gewalt
Und doch erzählt sie eine völlig neue Geschichte, bricht das klaustrophobe Kammerspiel auf und weitet es zum zornigen Diskurs und performativen Kunstwerk über die drängenden Fragen einer alternden Gesellschaft, über Liebe und Gewalt, Verletzlichkeit und Sterbehilfe. Während sich im Film Anne (Emmanuelle Riva) und Georges (Jean-Louis Trintignant) in ihrer mit Büchern und Kunstwerken vollgestopften Altbau-Wohnung immer mehr abkapseln, ihre bürgerliche Idylle in eine Todeszone verwandeln und sich die Einmischung ihrer Tochter Eva (Isabelle Huppert) verbitten, versetzt Henkel ihr Spiel vom Sterben zunächst in weißes Nichts, einen endlosen Krankenhausflur, in dem Georges (André Jung) herumirrt und zwischen all den geisterhaften Wesen seine geliebte Anne (Katharina Bach) kaum ausmachen kann. Wie auch, weht sie doch vervielfacht durch Räume und Zeiten, hat junge und alte Doppelgängerinnen, mit denen Georges sich an gute und schlechte Zeiten erinnern kann. Irgendwann brechen die zunehmend mit Daten und Diagnosen beschmierten Mauern des eingebildeten und von gefühllosen Ärzten und gestressten Pflegern heimgesuchten Horror-Hospitals weg und öffnen die Fantasie für reale Todeserfahrungen und wirkliche Sterbefälle.
Laien erzählen Schicksale
Unter die Schauspieler mischen sich Laien, die berichten, wie sie nach einem Schlaganfall zurück ins Leben fanden. Eine Mutter erzählt von ihrem Sohn, der an ALS erkrankte, bewegungslos dahin vegetierte und bis zu seinem Tod nur noch mit den Augen kommunizieren konnte. Ein Mann erinnert sich an den plötzlichen Tod seines besten Freundes und zeigt unter Tränen seine Trauer. Später, wenn Erde geschaufelt und die Bühne zu einer Grabstätte wird, formieren sich die Laien zu einem Chor und bitten um Vergebung für ihren Wunsch, selbstbestimmt über ihren Tod entscheiden zu dürfen. Parallel zum Einbruch der Realität in die Bühnenfiktion kämpft André Jung mit den Wunden von Erniedrigung und Verletzung, wenn er seiner das Leben aushauchenden Anne die Windel wechselt und ihr gegen ihren Willen Nahrung zuführt. Oder wenn er seiner misslaunigen und egozentrischen Tochter (ebenfalls von Katharina Bach verkörpert) das Wort abschneidet und sich ihre Sorgen nicht mehr anhören mag. Die Liebe ist stärker als der Tod, das Sterben für Anne und Georges Befreiung und Erlösung. Das Premieren-Publikum braucht einen Moment, um seine Schockstarre zu überwinden, reagiert dann mit euphorischem Applaus auf eine schmerzlich-grandiose Inszenierung.
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