Die Kulisse: ein verschiebbarer Baukasten aus grauen Wandelementen mit einer geschlossenen Tür. Davor liegt ein junger Mann, schlafend. Stille. „There is nothing but space in this waking world“, es gibt nichts als Raum in dieser erwachenden Welt, haucht eine Stimme in den anschwellenden Sound. Raum für eine Fülle von Möglichkeiten und Zielen, für die Verheißung von Applaus und Spektakel - und für quälende Selbstzweifel. Doris Day singt „Que sera, sera“. Sein Traum wird zum Kompass für den erwachenden jungen Mann. Die Tür öffnet sich, dahinter ein roter Vorhang und helles Licht. Er geht hindurch. Auf die Bühne.
Albert Galindo, 29 und Mitglied der NTM-Tanzcompagnie, hat den Prolog „Primavera“, Frühling, für das Stück „Seasons in Dance“ entwickelt, dessen Uraufführung im ausverkauften Tanzhaus Käfertal vom Publikum gefeiert wurde. Intendant Stephan Thoss hatte vier Choreographie-Talenten aus seinem Ensemble die Aufgabe gestellt, sich mit den verschiedenen Phasen einer Karriere im Tanz auseinanderzusetzen. Sie taten das mit elaboriertem tänzerischem Vokabular, einfallsreichen Requisiten und beherzten Griffen in den Werkzeugkasten aus Symbolen und Metaphern.
Extremer physischer Druck
Im zweiten Teil „Verano“, Sommer, vom 30-jährigen Spanier Luis Tena Torres angelegt als Traum-Sequenz, wird die Tür zum weiten Tor aus Lichtstäben. Projektionen und zuckende Reflexe unterstreichen die Dynamik der extrem physischen, durch energische Beats angetriebenen Interpretation der Phase des Karrierehöhepunkts eines Tänzers. Auf zwei überdimensionalen Skateboards rauschen die Tänzer durch Engagements und Auftritte. Zumindest im Traum scheint es für sie keine Grenzen zu geben. Die Kostüme spiegeln dieses Selbstvertrauen: mit eng anliegenden Tops und Strings über weiten Hosen.
Dem frühen Karrierehöhepunkt folgt das Bewusstsein des nahenden Bühnenabschieds
Auch für den dritten Teil des Abends, erdacht von Emma Kate Tilson, hat die Gewandmeisterei des Nationaltheaters ganze Arbeit geleistet: Der Herbst der Karriere steht im Zeichen nude-farbener Eleganz. Die Tänzer sind sich ihres Körpers und ihrer Ausstrahlung bewusst, doch der Gedanke an die Zeit danach ist schon präsent. Lorenzo Angelini zeigt das eindringlich im Duo zunächst mit Arianna Di Francesco und danach mit Pascal Michael Schut.
Noch gibt ihnen der Beruf Struktur und Geborgenheit wie das 30 Meter lange Band aus halb-transparentem dehnbarem Stoff, in dem Neuentdeckung Anna Zardi diagonal über die Bühne gezogen wird. Die Zeit lässt sich nicht aufhalten: Die des Tänzers ist nun mal die kürzeste aller Bühnenkarrieren. Im NTM-Ensemble ist derzeit keiner älter als 32.
Kein Ende, sondern Neubeginn
Dass Zoulfia Choniiazova den „Winter“ nun als einsam-trauriges Ende anlegen würde, ist dennoch weit gefehlt - und war auch nicht zu erwarten. Schließlich hat die inzwischen 49-Jährige in 25 Jahren am NTM selbst den Übergang von der gefeierten Solistin zur Ballettmeisterin und choreografischen Assistentin gemeistert. Ray Charles‘ „Hit the road, Jack“ setzt einen musikalischen Kontrapunkt zur davor gehörten getragenen Auftragskomposition von Louis Oehl und signalisiert Aufbruchstimmung: Die ganze Gruppe wird zum marschierenden, sich gegenseitig tragenden und Erfahrungen weitergebenden Schwarm.
Vier Gäste von der Akademie des Tanzes
Dass vier Studierende der Mannheimer Akademie des Tanzes, wo Choniiazowa Dozentin ist, mit auf der Bühne stehen, passt ebenso zu dieser stimmigen Produktion wie die Beteiligung der früheren Tänzerinnen Julia Headley als Kostüm-Assistentin sowie Praktikantin Paloma Galiana Moscardó, die den Master in Kulturmanagement anstrebt.
Alexandra Chloe Samions zunächst zaghaftes, dann immer selbstbewussteres Solo zu Musik von Ludovico Einaudi rundet die Tänzerkarriere schließlich: Schwarze Schnipsel regnen herab. Ist das Schnee? Oder Asche? Da öffnet sich die graue Tür im hinteren Teil der Bühne, ein verheißungsvoller Lichtstrahl fällt hindurch. Keine Trauer. Kein Ende. Ein Neubeginn. Ein zweiter Frühling?
Weitere Vorstellungen: 29. Februar, 2., 14. und 28. März.
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