Wer derzeit in Mannheim am Alten Messplatz ist, sieht außer Einraumhaus und Alter - die neue Bezeichnung des besonderen Ortes, der mittlerweile zwischen Bierbar, Kunstort, zwischen Sport und Sozialarbeit pendelt - ein überlebensgroßes Gestell mit großformatigen Fotografien aus fernen Ländern. Neugierig gehen immer wieder Betrachter in und um das zusammengeschweißte Gehäuse. Dieses enthält auch Texte, die von den Jesiden erzählen, einer vom sogenannten Islamischen Staat verfolgten Volksgruppe im nördlichen Irak, die einem ungewöhnlichen Glauben anhängt. Die Fotografien wirken sehr fremd und schön, es sind Porträts, aber auch Bilder von zerstörten Häusern und großartige Landschaftsaufnahmen. „Sinjar, my Soul, To You I belong“ heißt die Ausstellung. Die Bilder dazu sowie die Idee der Außenpräsentation - mit Hilfe von des Programms Neustart Kultur (Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien) stammen von Miriam Stanke.
Immer raus
Die 1983 in Eberbach geborene Künstlerin hat schon viel erlebt in ihrem jungen Leben, und ist derzeit sehr präsent in Mannheim. Bei den Offenen Ateliers konnte man sie zuletzt in ihrem feinen Atelier in Barac auf Franklin besuchen.
Miriam Stanke
Miriam Stanke wurde 1983 in Eberbach geboren. Heute lebt und arbeitet sie in Mannheim.
Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, etwa den Flash Forward Award von Magenta Foundation und den Graduate Photographers Award von Magnum Photos und Photo London. 2014 wurde sie für den Bar-Tur Photobook Award der Photographer’s Gallery London nominiert, 2015 für den Luma Rencontres Dummy Book Award Arles und den Kassel Book Dummy Award 2016.
Ihre Fotos wurden unter anderem schon im Port25 in Mannheim, bei der OFF Triennale in Hamburg, bei Backlight Festival (Finnland), beim Athens Photo Festival (Griechenland), in der TEN Gallery Mannheim sowie im Kunstverein Mannheim gezeigt.
Ihre Arbeiten sind derzeit in Mannheim auf dem Alten Messplatz beim Alter zu sehen, außerdem bis 31. Juli im Büro Brutal in der Laurentiusstraße 26 und bis Ende August in der ÖVA-Passage, P 7, zusammen mit Arthur Bauer, Elisa Berdica, Christian Kleiner und Sofia Samoylova.
Aber wie kam es zu alledem? Miriam Stanke zog es schon immer in die weite Welt. Ihr Studium hat sie zwar ursprünglich an der Fachhochschule Mannheim begonnen (heute Hochschule Mannheim), aber dann hat sie zwei Jahre in London gelebt und ihren Master am London College of Communication (LCC) gemacht, wo man einen speziellen Studiengang dokumentarische Fotografie belegen kann. Denn es hatte sich schnell herausgestellt, dass ihr die Dokumentarfotografie am meisten liegt und die am besten in London gelehrt wird.
Schon in Mannheim hat sie in ihrer Abschlussarbeit „Negra“ (2012) diesen Fokus eingeschlagen: Sie lebte acht Monate in Barcelona, Spanien, und hat fast täglich ein verlassenes Haus besucht, das von Immigranten aus Afrika besetzt worden war. Für diese war es eine Zwischenstation: in kalten, ausgeschlachteten Häusern, haben kein fließendes Wasser ohne Strom. Zwar sind sie irgendwie registriert, haben aber keine richtige Aufenthaltsgenehmigung.
„Das geht in Deutschland nicht“, sagt die Künstlerin, „hier ist alles viel strikter.“ In Spanien gehe es viel lockerer zu. Die Menschen haben Papiere, so dass sie etwa zum Arzt gehen können. „Für mich war es sehr faszinierend“, sagt Stanke. „Ich hatte immer die Kamera dabei, das ist wie eine Eintrittskarte. Das war das erste Mal ,storytelling’, die Faszination für die Geschichten fremder Kulturen, die freiwillig über das Meer kommen.“ In Afrika legen viele Menschen ihr Geld zusammen, damit der eine aus der Familie den weiten Weg übers Meer antreten kann. Sie zahlen letztendlich für die Überfahrt, aber auch für die Schleuser. Wie Miriam Stanke erzählt, „ist er dann der Stolz der ganzen Familie, aber muss auch wieder etwas zurückgeben und hat für sich Probleme, wenn es in Europa nicht klappt, was ja sehr wahrscheinlich ist.“
Alle Kameras gestohlen
Im Büro Brutal in der Neckarstadt ist derzeit ein weiteres Projekt von ihr zu sehen, das sie zusammen mit dem italienischen Fotografen Carlo Lombardi angelegt hat: „A Country Ain’t Too Much To Love“ (2018 bis 2022). Da war sie etwas komfortabler mit einem Ford Transit Bus unterwegs, ist aber 2018 in Bosnien kurz vor der Abreise ausgeraubt worden. Das ganze Equipment sei weg und nur die Filme seien noch da gewesen, weil sie in einer anderen Tasche verstaut gewesen waren. „Aber alle Kameras waren weg, das war schlimm, da habe ich lange gebraucht, das zu verschmerzen“, erzählt die Fotografin.
Stanke arbeitet analog mit alten Mittelformatkameras. Bei diesem Projekt ging es ihr 30 Jahre nach dem Ende des Bosnienkrieges um das Trauma, das sich auch bei der jüngeren Generation noch zeigt, abgesehen von den Einschusslöchern an Gebäuden. Die Jungen wissen nur über Erzählungen von den Geschehnissen mit über 100 000 Toten. Ihre Fotos von jungen Menschen, den Minen im Museum und unberührter Landschaft sind außerordentlich faszinierend. Besonders in dem kleinen Ausstellungsraum des Büro Brutal mit dem blauen Teppichboden und den in dunkles Holz gerahmten Fotografien. Ein Teil dieser Bilder ist auch in der ÖVA-Passage ausgestellt, in der Ausstellung „OSTOST“ mit Kolleginnen und Kollegen, die ebenfalls an den Spuren im ehemaligen Jugoslawien interessiert sind.
Der öffentliche Erfolg, die Unterstützung auch des Kulturamts, kommt zur rechten Zeit. Miriam Stanke ist nicht nur in Barac angekommen.
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/kultur_artikel,-kultur-mannheimerin-haelt-fremde-kulturen-mit-der-kamera-fest-_arid,1978669.html