Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben? Vielleicht. Aber vielleicht kann ein Zuspätkommen auch die Möglichkeit bieten, aus eingeschliffenen Verhaltensmustern auszubrechen und grundlegend über das Dasein nachzudenken. Letzteren Fall haben wir hier, im Mannheimer Theater Oliv, bei der Premiere von „Anderthalb Stunden zu spät“.
Das französische Stück von Gérald Sibleyras und Jean Dell ist der Theater-Nomenklatur nach eine Komödie. Aber wie so oft, wenn etwas Lustiges eine relevante Tiefe birgt, wird hierin auch viel von bitteren Dingen erzählt, von Reue, Enttäuschungen und Zweifeln.
Diese Premiere markiert zugleich einen Generationenwechsel: Oliv-Gründer Boris Ben Siegel, der das Theater 22 Jahre zusammen mit Coralie Wolff leitete, hat Ende vergangenen Jahres den Vorstand der freien Bühne verlassen. Ihm nach folgt Angelika Baumgartner, die bei „Anderthalb Stunden zu spät“ auch die Regie führt. Für die Musik zeichnet Burkhard Dersch verantwortlich, für die Szenographie Stefan Schneider, für die Kostüme Eva Roos.
Dieser Übergang spiegelt sich ein wenig im Stück, schließlich geht es auch darin um Umbrüche nach einer langen gemeinsam verbrachten Zeit: Pierre (gespielt von Siegel) und seine Frau Laurence (Wolff) sind seit 30 Jahren verheiratet. Der Steueranwalt hat seine Kanzleianteile an einen Freund verkauft, der die beiden nun zum Essen einlädt. Das letzte der drei Kinder hat gerade das Haus verlassen und die beiden sind zum ersten Mal Großeltern geworden. Alles könnte gut sein, aber: „Ich geh’ da nicht hin“, sagt Laurence unvermittelt. Vielmehr hat sie das Bedürfnis zu reden. Über ihre Angst vor dem Alter, davor, überflüssig zu sein, nachdem die Kinder ausgezogen sind, über Pierres bevorstehende Rente und das dräuende Nichtstun in der gemeinsamen Luxuswohnung an der Seine.
Das Leben verpfuscht?
Sie, die einst einen glänzenden Studienabschluss absolvierte und dann Mutter und nichts anderes wurde, fragt sich, ob sie ihr Leben „verpfuscht“ hat. Auf der klar aufgebauten Bühne – zwei Stühle vor einer kubistisch-verwinkelten Wand – erleben wir ein launig-nachdenkliches, nachgerade altmodisches Stück, das von einer Zeit erzählt, als geschlechtliche Rollenbilder fest in der Welt standen. Zugleich wirkt es unerwartet wenig angejahrt.
Zum einen, weil es universelle Fragen danach stellt, was Menschen im Innersten zusammenhält, was Erfüllung bedeutet. Zum anderen, weil die beiden sehr überzeugend spielen – Wolff lässt Laurence eine distinguierte Haltung bewahren, so sehr dieser auch alle Sicherheiten entgleiten; und in Siegels Pierre leuchtet bei aller Spießbürgerlichkeit ein schwärmerischer Kern.
Und wenn sie auch streiten, so verbindet beide Figuren doch eine Wärme, die einen keinen Moment an die angedrohten Trennungen glauben lässt: Niemand ist hier zu spät.
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/kultur_artikel,-kultur-mannheimer-theater-oliv-zeigt-premiere-zu-paarbeziehungen-_arid,2165563.html