Journal

Kultur ist ein Lebensmittel!

Ein persönliches Bekenntnis zum existenziellen Wert der Kunst: Sie eröffnet uns Möglichkeiten, mit der Welt zurecht zu kommen

Von 
Georg Spindler
Lesedauer: 
Eine andere Welt ist denkbar: Das zeigt uns der Ludwigshafener Künstler Helmut van der Buchholz auf diesem Bild. © Georg Spindler

„Wir dürfen uns nicht zum Gefangenen der Situation machen!“ Diese Lebensweisheit habe ich nie vergessen. Mit auf den Weg gegeben hat sie mir als junger Redakteur der „Mannheimer Morgen“-Fotograf Walter Neusch. Weil wir – damals gab es noch kein Handy – im Verkehrsstau standen und zu einem Pressetermin zu spät kamen, war ich völlig aufgelöst. Der Spruch hat für mich aber längst eine weitreichendere Bedeutung. Er kommt mir stets in den Sinn, wenn ich verstehen möchte, warum Kultur für mich so extrem wichtig ist: Kultur ist für mich ein Lebensmittel.

Warum ist das so? Ich bin nicht mit klassischer Musik aufgewachsen wie mein verstorbener Bruder, der jahrelang Klavierunterricht hatte, war auch nicht wie er ein leidenschaftlicher Romanleser. Ich konsumierte Schundhefte, zeichnete Comics, nur für mich. Eher ängstlich, introvertiert, wegen eines temporär gelähmten Beins keine Sportskanone, war ich der Außenseiter-Typ, der bei seiner eigenen Geburtstagsparty von einem Gast verprügelt wurde (seither feiere ich keine Geburtstage mehr). Aber als ich mit 13 Jahren Jimi Hendrix hörte, änderte sich alles. In meinem kleinen Zimmer war ich plötzlich umgeben von fantastischen Klängen. Die Gitarre zischte wie ein Monster, rauschte wie Meeresbrandung, dröhnte, als würde ein Ufo direkt vor mir landen. Die Musik befreite mich, stieß Türen auf zu neuen Welten.

Das ist das Großartige an Kultur: Sie zeigt, dass wir in unserer Existenz – bei all ihrer Begrenztheit durch Herkunft, Erziehung, Konvention – letztlich nicht gefangen sind. Sie weist Wege in die Freiheit. Besitzt die Kraft, die Grenzen der Realität zu überwinden, lässt Träume real werden. Es gab für mich in meiner Jugend (auch dank guter Lehrer) so viele Inspirationen: Chagall, der in fantastischen Szenarien riesige Hähne durch die Luft liegen ließ, die Menschen in Schlitten hinter sich herzogen – warum auch nicht? Kandinsky, der mit seinen abstrakten Bildern zeigte, dass es eine aufregende Welt jenseits der Gegenständlichkeit gibt. Und Dadaismus – weil er gleich jegliche Sinnhaftigkeit negierte.

Trakls Gedichte bringen lesefaulen Schüler zum Schreiben

Dann Filme: Antonionis Meisterwerk „Blow Up“, eine Betrachtung über unsere Wahrnehmung. Mit jeder Szene stellt der Film die Frage: Was ist wirklich – und was inszeniert, gespielt, imaginiert? Oder die mysteriösen Werke von Buñuel wie „Belle de Jour“, in denen nichts so ist, wie es zu sein scheint, sondern doppelbödig, abgründig. Und Tatis „Mon Oncle“, der sich nicht von der kalten materialistischen Welt der Moderne überwältigen lässt, sondern sie mit subversivem Witz aus den Angeln hebt. All dies lief damals, als es nur drei Programme gab, im Fernsehen. Was für ein Unterschied zu heute.

Was mich als lesefaulen Schüler schließlich selbst zum Schreiben brachte, waren die Gedichte Georg Trakls. Sie entzogen sich dem raschen Zugriff, wirkten rätselhaft, verstörend, hermetisch. Diese Lyrik schien nur oberflächlich Natur-Poesie zu sein. All die Bilder von Bäumen, Blumen, Tieren verbargen tiefere, vieldeutige Bedeutungsebenen aus einer anderen, inneren Welt. Die war rational nicht zu ergründen, sondern nur in subjektiver, assoziativer Annäherung.

Georg Büchners Kunstverständnis wurde wichtig. Was er in „Lenz“ formuliert: „Ich verlange in allem – Leben, Möglichkeiten des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist“, hat mein Verständnis von Kultur grundlegend und nachhaltig geprägt – bis heute. Wohlklang? Eingängigkeit? Verständlichkeit? Das sollen künstlerische Kriterien sein? Mitnichten. Das hat natürlich auch eine politische Stoßrichtung. Plakative Kunst als bloßes Mittel zum Zweck für politische Aussagen hat mich allerdings nie interessiert. Es gibt für mich nichts Langweiligeres als Arbeiter- oder Protestlieder: Jede Geräuschcollage Karlheinz Stockhausens oder Frank Zappas, jeder Saxofonschrei von Archie Shepp ist politischer.

Filme, Theater und Romane bieten „Möglichkeiten des Daseins“

„Möglichkeiten des Daseins“ – das bieten Filme, Theaterstücke und Romane. Jede schauspielerische Darstellung einer Figur, jede literarische Fiktion zeigt uns Positionen, Gefühle, Gedanken und Geschichten außerhalb unserer eigenen Lebenswelt. Lässt uns in der Auseinandersetzung nachdenken, was ganz anders, aber dennoch möglich sein könnte. Diesen Reichtum an Optionen spüre ich am stärksten in der Jazzmusik. Sie offenbart als Kunst des individuellen Ausdrucks in jeder Improvisation unterschiedliche, ganz persönliche Weisen, mit dem musikalischen Material zu spielen. Im Jazz ist nicht nur der eine verbindliche Weg vorgeschrieben, der einen Solisten durch die Strukturen eines Stückes führt, es gibt unzählige. Diese künstlerische Vielfalt gibt mir letztlich existenzielle Zuversicht: die Hoffnung, dass es im Leben immer wieder auch alternative Möglichkeiten gibt. Wir sind nicht gefangen.

Redaktion

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen

VG WORT Zählmarke