Enjoy-Jazz-Interview

„Der Jazz ist eine Zwischensumme des Menschseins“

Enjoy-Jazz-Chef Rainer Kern über über seine Arbeit als Kurator, über sich und eine Musik, die ihre eigentliche Bestimmung in dem Moment verliert, in dem man ihr Endgültigkeit zu verleihen versucht - ein Gespräch mit Rainer Kern.

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Ist immer auf der Suche nach neuen Öffnungen zum Ausbrechen aus dem Gewohnten: Rainer Kern an der Ostsee in Polen bei Sopot. © Bogna Kociumbas

Es sei „ein Festival, das in Europa seinesgleichen sucht“, schrieb Frankreichs wichtigste Tageszeitung „Le Monde“ über Enjoy Jazz. Das war 2009. Das „Festival für Jazz und Anderes“ war damals zehn Jahre alt. Heute ist es größer denn je und zieht mit seinen rund 60 Veranstaltungen etwa 20 000 Menschen nach Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen. Die Freude am Jazz ist – nomen est omen – das Motto des Festivals, das wie kein anderes alle drei Großstädte der Metropolregion einbindet, ja, verbindet – ein Gespräch mit Gründer und Festivalkurator Rainer Kern.

Herr Kern, macht es eigentlich immer noch Spaß?

Rainer Kern: Das Kuratieren eines Musikfestivals? Unbedingt.

Klingt sehr einsilbig, Ihre Antwort.

Kern: Na ja, in der Regel ist Spaß ja eine Empfindung, die getriggert werden muss, der also etwas Auslösendes vorausgegangen ist. Dieses Vorausgehende hat mich immer mehr interessiert als der Spaß daran. Der kommt ja von allein. Man kann ihn nicht aktiv gestalten. Spaß ist eher ein Reflex oder eine Reaktion. Was mich reizt, ist das Gestalten. Und am liebsten etwas, das teilbar ist, an dem dann ganz viele Menschen Spaß haben. Mich selbst eingeschlossen.

Klingt, als sei Enjoy Jazz für Sie etwas, das Sie den Menschen schenken …

Kern: Eher anbieten. Wir unterbreiten pro Jahr gut 60 Angebote, sich mit hochwertiger Kunst und dadurch idealerweise auch mit sich selbst auseinanderzusetzen. Angebote, sich auf etwas einzulassen, das man selbst vielleicht gar nicht entdeckt hätte. Es ist eine Chance, etwas Neuem zu begegnen, manchmal sogar im Vertrauten, sich überraschen, begeistern oder sogar positiv verändern zu lassen. Man lernt ja im Spiegel der großen globalen Entwicklungsstränge – wie wir als internationales Festival sie seit über einem Vierteljahrhundert abzubilden versuchen – oft besser zu verstehen, wer man ist und was einem wichtig ist. Und manchmal wird das tatsächlich als eine Art Geschenk wahrgenommen. Zumindest ist mir das so zu Ohren gekommen. Das freut mich.

Und was haben Sie über sich gelernt? Wer sind Sie?

Kern: Ich lebe gerne hier, wo ich geboren bin, und aber auch in der Welt, im Globalen, wenn Sie so wollen. Und da das für mich keine Parallelwelten sind, vereine ich beides. Diversität ist für mich großes Glück, der Umgang damit Freude und die Vermittlung davon eine Bestimmung. Dennoch gibt es viele Herausforderungen, denen mit Kreativität und Offenheit am besten zu begegnen ist. Auch wenn das Scheitern ab und zu ein Teil davon ist, gefährdet es nicht das Ganze. Auf dem Weg zum Schönen gibt es viel Unschönes, aber es lohnt sich, das auszuhalten. Das ist ein stetiger Prozess, bei dem mir Kunst allgemein und Musik im Speziellen sehr hilft. Die Kraft der Kunst trägt mich. Und die persönlichen Begegnungen. Teil sein und nicht alleine sein.

Da Sie offenbar nicht so gern über sich als Mensch sprechen, reden wir also über Musik. Wo sehen Sie neueste Strömungen – auch im Programm von Enjoy Jazz?

Kern: Gar nicht mal so wenige der neuesten Strömungen sind im Jazz schon immer angelegt. Sonny Rollins drückte das uns gegenüber mal so aus: „Der Jazz kann gar nicht anders, als politisch zu sein.“ Themen wie Intersektionalität, Rassismus oder Demokratie-Reflexionen waren schon immer in dieser Musik angelegt. Wynton Marsalis nennt den Jazz sogar „eine musikalische Metapher für die Demokratie“.

Okay, so weit, so weitgehend bekannt. Könnten Sie bitte noch etwas konkreter werden?

Kern: In ihrer künstlerischen wie analytischen Tiefe neu sind meines Erachtens vor allem mindestens zwei Strömungen: Immer mehr Musikerinnen und Musiker beschäftigen sich mit unserem Erbe als Menschheit und dabei insbesondere mit dem Einfluss der Folgen des Kolonialismus auf die aktuelle gesellschaftlichen und sozialen Gemengelage. Der südafrikanische Pianist Nduduzu Makhathini, unser Artist in Residence, hat das zu seinem Generalthema gemacht. Ein weiteres Beispiel ist Jowee Omicil, der mit seinem neuen Album, das er bei uns live präsentieren wird, tief in die haitianische Geschichte zurückblickt. Und die zweite Strömung könnte man durchaus als Antwort auf die erste lesen. Wir haben sie zu unserem Festival-Motto gemacht: Healing. Welche Möglichkeiten, auf Fehlentwicklungen zu reagieren, hat die Kunst und insbesondere die Musik und welche Verantwortung ergibt sich daraus?

Wie sieht das praktisch aus?

Kern: Als ich im letzten Jahr vor Ort live gesehen habe, was die renommierte Carnegie Hall aktuell macht, war ich sehr ergriffen. Sie hat unter anderem ein Konzept entwickelt, das sich „Well-Being Concerts“ nennt. Da die Carnegie ihre Marke sehr restriktiv führt, ist es fast schon eine Sensation, dass wir, Enjoy Jazz, die einzigen sind, denen man gestattet hat, dieses Konzept autorisiert außerhalb von New York umzusetzen. Die wichtigste Impulsgeberin des Projekts, Nisha Sajnani, die auch die Weltgesundheitsorganisation berät, wird mit auf der Bühne sein. Mehr möchte ich jetzt gar nicht verraten. Das muss man erleben.

Okay, das alles betrifft – sagen wir - eher den soziopolitischen Bereich. Aber was tut sich ästhetisch?

Kern: Es gibt natürlich auch rein ästhetische Aspekte im aktuellen Jazz, wie zum Beispiel die Beschäftigung vieler junger Musikerinnen und Musiker mit dem Erbe insbesondere von John und Alice Coltrane sowie Pharoah Sanders. Immanuel Wilkins ist einer dieser Jungen, die das in der Gegenwart neu interpretieren und damit eben auch junge Leute ansprechen.

Was bedeutet das für die Diskussion ums musikalische Material?

Kern: Nichts. Weil Jazz seinem Wesen nach keine Repertoiremusik ist, sondern eine mit den Mitteln der Kunst erzeugte Zwischensumme des Menschseins. Wo man versucht, ihn über das Repertoire zu definieren oder ihm Endgültigkeit zu verleihen, verliert er seine eigentliche Bestimmung und Bedeutung. Das Material ist im Jazz immer nur der Beginn von etwas, und zwar von etwas zutiefst Diversem und damit Menschlichem.

Rainer Kern und Enjoy Jazz

  • Der Macher: Rainer Kern, geboren 1965 in Mannheim, hat das Festival Enjoy Jazz 1999 in Heidelberg am Karlstorbahnhof gegründet. Seit 2000 findet es auch in Mannheim, seit 2002 auch in Ludwigshafen statt.
  • Das Festival: Enjoy Jazz ist das größte Jazz-Festival Deutschlands. Es wurde 1999 nach einer Idee von Rainer Kern ins Leben gerufen und war anfangs eher eine Veranstaltungsreihe des Karlstorbahnhofs Heidelberg. Erst im Laufe der Jahre wuchs die Zahl der Veranstaltungen von anfangs 15 auf rund 60 an, wurde auch in Mannheim und Ludwigshafen gespielt. Zuletzt besuchten mehr als 20 000 Menschen die Konzerte.
  • Die Artists in Residence: Der Pianist Makhatini aus Südafrika ist Artist-in-Residence des Festivals, das Rainer Kern unter das Motto „Healing“ gestellt hat.
  • Das Programm: Die 26. Ausgabe beginnt am 2. Oktober im BASF-Feierabendhaus mit einem Konzert von Vijay Iyer und Nduduzo Makhathini. Stilistisch extrem breit gefächert finden bis zum 10. November mehr als 50 Konzerte statt (derzeit sind zwei abgesagt, siehe Website). Acts wie etwa ein Klaviertrioabend mit Pianist Brad Mehldau, die Jazzpopband Alfamist oder der Musikentertainer Helge Schneider zeigen die Vielfalt des Programms. In den kommenden Wochen kommt aber auch Jazz und zeitgenössische Musik aus der ganzen Welt in die Region. Mehr unter enjoy-jazz.de

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