Mannheim. Wie weit sind sie entfernt, die heutigen Proteste im Iran? Und wie weit sind sie entfernt von jenen im Jahr 2009? In einer szenischen Lesung im Studio Werkhaus findet der neue Hausautor des NTM Amir Gudarzi eine Antwort darauf. Die beiden Mitglieder des Schauspiel-Ensembles Sarah Zastrau und Leonard Burkhardt tragen beide schwarze Kapuzenpullover.
Auf ihnen stehen klein, aber prominent drei Wörter übereinander, in einer Sprache, die wenige im Saal sprechen dürften, deren Bedeutung aber jeder kennt. Jin, Jiyan, Azadî. Frau, Leben, Freiheit. Denn im Unterschied zu damals, als hauptsächlich Männer auf die Straße gingen, sind es heute viele Frauen. Und es ist die Jugend, die ihr Leben riskiert - und auch lässt.
Flucht von Teheran nach Wien
Amir Gudarzi, geboren 1986 in Teheran, floh vor 15 Jahren nach Österreich. Seitdem lebt der Autor in Wien, im August erschien sein Roman „Das Ende ist nah“.
Gudarzi selbst liest an diesem Abend nicht. Gemeinsam mit Dramaturgin Franziska Betz sitzt er auf diesen so vertrauten wie oftmals verabscheuten weißen Gartenstühlen aus Plastik. Während die Darstellenden aus den Kapiteln vortragen, rutscht er auf der Sitzfläche herum, trinkt, fühlt, fährt sich über den Schnauzer; verschränkt mal die Finger, mal fahren sie durch die Luft.
Viel wird nicht preisgegeben in den vier kurzen Auszügen. Nichts von der Gewalt beschrieben, nichts von der tragischen Liebesgeschichte berichtet. Einen Eindruck machen sie trotzdem - nicht nur von der erzählten Geschichte. Die Zuschauenden im Werkhaus hören von dem Protagonisten A. der, ähnlich dem Autor, 2009 aus dem Iran während der Proteste nach Österreich flieht. Gudarzi merkt im Gespräch an, dass das Buch weder Autobiografie noch Autofiktion ist - „es ist Literatur.“
In Überblendungen nähern sich die Handlungsorte an, während sich A. weiter entfernt. Es ist die überwältigende Stärke des Werks, dass Stille und Stillstand, Laufen und Lärm so eng verflochten sind. Ohne sich aufzudrängen, kriechen die Motive ins Bewusstsein und arbeiten dort weiter. Es ist sehr gute Literatur.
Von Alltagsrassismus und Apathie
Nach dem Gottesstaat findet sich der Protagonist im bürokratischen Rechtsstaat. A. sitzt nun in der zentralen Aufnahmestelle in Traiskirchen. Die gelesene Passage erzählt von Apathie und Alltagsrassismus. Sie gibt Einblick in den Alltag Geflüchteter, bei dem das Asylverfahren die einzige Gemeinsamkeit ist. Statt körperlicher Gewalt folgt nun die psychische. Statt offenkundigen Wunden und Schmerz ist er jetzt mit einer Pein konfrontiert, die unsichtbar ist. Die willkürlichen Polizeikontrollen. Die Sorge um die Familie. Die Depressionen.
Dieser Roman ist mit seinen Kapiteln wie ein mehrstöckiges Haus gebaut, dessen Grund auf schiefem Boden errichtet wurde. So beschreibt es Gudarzi. Und er sagt an diesem Abend noch viele kluge, poetische Dinge. Über Hoffnung als eine andere Möglichkeit der Zukunft etwa. „Deutsch ist neurotisch, Farsi ist vage“ beschreibt er den Unterschied der beiden Sprachen, in denen er schreibt - geschrieben hat. Dabei ist sein Blick auf Worte und Syntax entlarvend. Wo beginnt Sprache zu schweigen - und warum?
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