So turmhoch überragte der Film „Poor Things“ im diesjährigen Wettbewerb der 80. Filmfestspiele in Venedig die Konkurrenz, dass am Ende auch die Jury daran nicht vorbeikam. Der Goldene Löwe für das neue Werk des griechischen Regisseurs Giorgos Lanthimos kam am Ende so wenig überraschend wie lange keine Festival-Entscheidung mehr. Schon mit Filmen wie „The Lobster“ oder dem Oscar-Gewinner „The Favourite“ hatte Lanthimos seinen unbedingten Willen zu unvergesslichen Szenarien, einfallsreichen Bildern und surrealistisch angehauchtem Humor bewiesen, aber auch sein sehr feines Gespür für die Komplexitäten der menschlichen Natur.
Die von Tony McNamara verfasste Adaption des Romans „Arme Dinger“ vom schottischen Schriftsteller Alasdair Gray knüpft nun an eben diese Qualitäten nahtlos an, nur dass die Größenordnung der Produktion nochmal eine ganz andere ist.
Zunächst erinnert die Geschichte der jungen Bella (Emma Stone) ein wenig an Frankenstein. Im England des 19. Jahrhunderts wächst sie in der Obhut des exzentrischen, abseits der gängigen Forschung experimentierenden Dr. Baxter (Willem Dafoe) auf, mental auf dem Niveau eines Kleinkindes, aber im Körper einer erwachsenen Frau.
Doch dann sehen wir ihr dabei zu, wie sie schließlich hinauszieht in die Welt, Sprache und Verhaltensnormen lernt sowie die Sexualität und ihre Persönlichkeit entdeckt, und bei all dem zwar selbst vollkommen frei ist vom Zwang gesellschaftlicher Konstruktionen, aber letztlich eben nicht von den Blicken und Erwartungen des Patriarchats. „Poor Things“, dessen deutscher Kinostart im Zuge der Streiks in Hollywood vom Oktober auf Februar verschoben wurde, ist ein furioser Film, der die Mittel des Kinos in ihrer ganzen Bandbreite ausnutzt und schon deswegen preiswürdiger war als die meisten anderen Löwen-Anwärter in diesem Jahr.
Thema Flucht im Fokus
Die Geschichte ist ebenso klug wie schräg und witzig, die Kameraarbeit von Robbie Ryan ist keinen Deut weniger originell als die Kostüme und die Kulissen. Und Emma Stone spielt, unterstützt von einem fantastischen Ensemble, zu dem etwa Mark Ruffalo, Hanna Schygulla oder Ramy Youssef gehören, so furchtlos und hingebungsvoll auf wie nie zuvor in ihrer Karriere. Trotz dieses Übermaßes an Kreativität und Einfallsreichtum bei Lanthimos: Die bittere Realpolitik wurde bei der Preisverleihung am Samstag nicht komplett ignoriert.
Der Jury-Vorsitzende Damien Chazelle und seine Mitstreiter, darunter Jane Campion, Martin McDonagh und Vorjahresgewinnerin Laura Poitras, bedachten gleich zwei Filme mit Auszeichnungen, die das Thema Flucht in den Fokus nahmen.
Während Agnieszka Hollands Schwarzweiß-Drama „Green Border“ über die erschütternden Vorgänge an der Grenze zwischen Polen und Belarus den Spezialpreis der Jury erhielt, gab es für den nicht ganz so anklagenden, aber kaum weniger tragischen „Io Capitano“ von Matteo Garrone den Silbernen Löwen für die Beste Regie. Der Italiener zeichnet darin mit Feingefühl und magischem Realismus den Weg zweier Jugendlicher aus dem Senegal durch die Wüste und übers Mittelmeer bis an die Grenzen seiner Heimat nach. Sein junger Hauptdarsteller Seydou Sarr erhielt obendrein den Marcello-Mastroianni-Preis, mit dem seit 1998 Schauspielnachwuchs geehrt wird.
Während der Japaner Ryusuke Hamaguchi hochverdient den Großen Preis der Jury für seine dezente, ungemein facettenreiche Gentrifizierungsfabel „Evil Does Not Exist“ erhielt und der Drehbuch-Preis an Pablo Larraín ging, der in seiner Satire „El Conde“ Pinochet als Vampir imaginiert, machten Chazelle und Co. um die US-amerikanischen Großproduktionen im Wettbewerb größtenteils einen Bogen. Michael Mann und sein etwas enttäuschender „Ferrari“ ging ebenso leer aus wie David Fincher und sein „The Killer“ oder das mit Pomp und großer Geste nach möglichen Oscar-Nominierungen greifende Bernstein-Biopic „Maestro“ von und mit Bradley Cooper.
Hoffnungen für die Zukunft
Immerhin Sofia Coppolas „Priscilla“ ging nicht leer aus: Cailee Spaeny erhielt für die Titelrolle die Coppa Volpi als Beste Darstellerin. Keine unverdiente, aber doch eine etwas überraschende Entscheidung, begrenzt die Figur der Presley-Witwe die 25-jährige Newcomerin doch auf ein eher reaktiv-passives Spiel, weswegen viele auf dem Lido eher einen Preis für Jessica Chastain als traumatisierte Alkoholikerin in „Memory“ erwartet hatten. Für den gleichen Film wurde stattdessen Peter Sarsgaard als Bester Darsteller ausgezeichnet.
Für den stilsicheren deutschen Noir-Thriller „Die Theorie von allem“ oder auch die faszinierende Benelux-Koproduktion „Holly“ galt derweil das olympische Motto „Dabei sein ist alles“. Sowohl Timm Kröger als auch seine Kollegin Fien Troch – beide erstmals im Wettbewerb eines A-Festivals zu Gast – empfahlen sich mit starken Filmen und eigener Handschrift allerdings überzeugend als Hoffnungen für die Zukunft. Und auf die wird am Lido ohnehin bald der Blick gerichtet. Denn nicht nur die Berlinale sucht eine neue Leitung, auch in Venedig wird Festival-Chef Alberto Barbera kommendes Jahr zum letzten Mal im Einsatz sein.
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