Was, Sie kennen Oberzent noch nicht? Das wäre seltsam, denn es ist eine der größten Städte Hessens. „Flächenmäßig jedenfalls“, wie ein Odenwälder „Großstadt“-Einwohner gewinnend selbstironisch mitteilt. Als Zusammenschluss diverser Weiler mit Beerfelden gibt es diese Stadt erst seit 2018. Nicht so lange wie das Festival im Stadtteil Finkenbach, das auch in diesem Jahr ein Ort der Kontinuität bleibt. Das liegt hauptsächlich an seinem guten Geist und obersten Programmmacher: dem Krautrock-Denkmal Mani Neumeier von Guru Guru.
Auf drei Säulen ruht dieses Programm, auch wenn inzwischen eine davon ziemlich morsch geworden ist: der Krautrock selbst. Denn allzu viele lebende – und künstlerisch noch ernstzunehmende – Vertreter dieser Gattung gibt es nicht mehr. Viele alte Häuptlinge sind tot. Doch Mani Neumeier, berühmt geworden in der Rolle des Elektrolurchs, die er in diesem Leben nicht mehr loswird (die Tournee 2020 soll „Ein Lurch wird 80“ heißen), hat sich eine jugendliche Frische konserviert, die manchmal fast noch kindlich anmutet: wenn er zu Anfang des Konzerts von Guru Guru mit dem Publikum zusammen einen Knalleffekt aus aufgeblasenen Papiertüten ins Finkenbacher Tal hinausballert. Natürlich biologisch abbaubar und nachhaltig. Wie die Musik.
Da kommt zwar nicht mehr allzu viel hinzu an neuem Material, die aktuellen Stücke könnte man fast an den Fingern einer amputierten Hand abzählen. Doch die musikalische Vergangenheitsbewältigung, die auch ein ritualisiertes Schlagwerksolo Neumeiers beinhaltet, kommt unverändert, unzerstörbar wuchtig und vital daher. Selbst der Elektrolurch hat an der Lüsterklemme einen neuen kleinen Dreh entdeckt. Bei Guru Guru wirken alte Rituale niemals steif.
Selbst erfundenes Instrument
Sie kleben auch an keiner Scholle: Diese Band verkörpert selbst die Säulen dieses Festivals – neben dem Krautrock sind es Weltmusik und Blues(-Rock). Irgendwelche Einflüsse aus diesen Sphären zeigen alle Gruppen, die an den zwei Finkenbacher Tagen auftreten. Selbst Lazuli um die Gebrüder Leonetti, die Franzosen geben sich zwar ausgesprochen individuell, als Nachfahren des Asterix gewissermaßen, auch in ihrem Äußeren. Claude Leonetti spielt auf der „Léode“, diese Eigenkonstruktion wurde erforderlich, weil er nach einem Unfall seinen linken Arm nicht mehr benutzen konnte – die Erfindung klingt manchmal wie eine Pedal Steel Guitar, besitzt aber auch harfenartige Register. Und ein Waldhorn gibt es ebenfalls, das allerdings von seinem Bläser nicht französisch oder deutsch, sondern oft orientalisch eingefärbt wird. Alles ist sehr einfallsreich und findig, nicht zuletzt die raffiniert geklöppelte Percussion-plus-Marimba-Zugabe. Solch gallischer Esprit kommt an.
Das Künstlerkollektiv Adesa kommt zum größten Teil aus Ghana und hat „echte“ Weltmusik im Köcher. Wie die Dissidenten, eine deutsche Multikulti-Gruppe: Ruhig und majestätisch, wie in einem Raga aus der altindischen Kunstmusik, schwingt sich die Band bei ihrem Finkenbacher Auftritt ein. Die Dissidenten scheinen sich nicht abzuspalten, sondern mit der ganzen Welt im Gleichgewicht zu sein. Danach geht es auch oft nach Afrika und in den Nahen Osten. Aristoteles hat einst geglaubt, die Nil-Quellen lägen in Indien. Geografisch hat er sich da wohl geirrt, spirituell hat seine These manches für sich. Doch die Dissidenten können auch zu Feier-Biestern werden – die der Rolling Stone zu „Godfathers Of World-Beat“ adelte.
Daneben spielt, am ersten Tag des Festivals, der alte Bluesrock-Adel: Leo Lyons, Woodstock-Veteran und Ten Years After-Mitbegründer, hat das Trio Hundred Seventy Split dabei. Stilistisch artverwandt sind der Australier Rob Tognoni und die Gruppe Nine Below Zero. Selbst beim allerletzten Act des Festivals, zum Kehraus, bei den Detroit Blackbirds um den Heidelberger Gitarristen Alex Auer, ist der Weg zum Bluesrock kein besonders weiter. Auer darf ja manchmal auch in Xavier Naidoos Band die schönste „Drecksarbeit“ verrichten: eine haarig-raue Rockgitarre schlagen.
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